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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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zuvor die gleiche Erzählung gelesen. Dies brachte mich
in Schwierigkeiten, da ich mir eben diese Erzählung als
Basis ausgesucht hatte. Statt dessen gab ich eine Novelle, an der
ich gerade arbeitete, in groben Zügen zum besten,
änderte die Orte und Namen der Personen und bildete mir ein,
damit den spannendsten Beitrag des Abends geleistet zu haben. Wir
gefielen uns, und daß alles nur Erfindung war, wollten wir
nicht wahrhaben. Ich sonnte mich in dem Beifall, den ich
erhielt.
    Aber da war noch Jo. Er hatte beinahe die ganze Zeit still und
wie verloren zwischen uns gesessen, und als wir ihn baten, unsere
Runde zu vervollständigen, wehrte er ab: »Ich kann
nichts erzählen. Ihr wißt, daß ich mir eine
solche Geschichte nicht ausdenken kann, und ich habe wirklich
nichts erlebt, was erwähnenswert wäre.«
    »Und was ist mit dem, das nicht erwähnenswert
ist?« bohrte Alex.
    »Nein, nein«, sagte Jo leise. »Ich habe
meine Bilder und Statuen und Monumente und Fresken, und wenn sie
auch manchmal Seltsames darstellen, so sind sie doch für
mich noch nie lebendig geworden.«
    Hier muß ich einflechten, daß Jo Restaurator ist.
Er ist ein schweigsamer, schmächtiger Mann, der in unserer
Runde immer eigenartig deplaziert wirkt. Während wir anderen
unsere künstlerischen Ambitionen nach außen
verdeutlichen, indem wir uns nicht kämmen, selten waschen,
nicht rasieren und nachlässig kleiden, erscheint er zu
unseren Treffen jeweils sorgsam gepflegt. Als ich ihn einmal
fragte, weshalb er so großen Wert auf seine Erscheinung
lege, sagte er: »Es reicht, wenn ich den ganzen Tag
über mit Farbe, Mörtel und Staub bedeckt bin. Ich
versuche, mich dagegen zu wehren, daß die Kunstwerke mich
mit ihren Absonderungen fressen.«
    Ich hätte schwören mögen, daß es in
seinem sorgsam gehüteten Privatleben etliche
erwähnenswerte Erlebnisse der verwirrenden Art gab, doch Jo
widersetzte sich allen Aufforderungen, darüber zu
sprechen.
    »Du bist ein Spielverderber«, sagte Justus
schließlich. »Ich weiß auch nicht, weshalb wir
dich noch in unserer Mitte dulden.«
    »Ich gehe gern, wenn ihr es wünscht«,
erwiderte Jo, doch seine Augen sprachen das Gegenteil aus.
    »Es war nicht so gemeint«, verteidigte sich
Justus. »Aber dir muß man immer die Würmer aus
der Nase ziehen. Zier dich doch nicht so!«
    »Es tut mir leid, ich wollte nicht den Abend
stören, aber ich weiß wirklich nichts. Ich bin kein
Geschichtenerzähler.«
    »Gibt es da nicht eine winzige Kleinigkeit in deinem
Leben?« fragte Günter.
    »Nein, nicht in meinem Leben«, antwortete Jo.
    Ich hakte nach: »In wessen Leben denn?«
    »Püppchen! Noch eine Runde!« rief Justus
dazwischen. Jo schwieg.
    Als das Bier vor uns stand, sagte ich: »Also, Jo, in
welchem Leben gibt es etwas Berichtenswertes von der Art, die uns
heute interessiert?«
    »Ach, es ist nichts weiter«, wich er aus.
»Ich weiß auch nicht, wie ich das alles verstehen
soll.«
    »Vielleicht verstehst du es, wenn du es uns
erzählst«, sagte Alex.
    Jo schaute uns nacheinander an. Seine traurigen Augen sahen
tief in uns hinein. »Ja, es gibt wirklich etwas, das ich
nicht verstehe. Aber im Gegensatz zu euren Geschichten hat es
sich wirklich ereignet.«
    »Ein Grund mehr, es hier und jetzt mitzuteilen«,
sagte Günter. »Werde ein zweiter Gustav
Meyrink!«
    Und er wurde zu einem Erzähler. Er führte uns in
immer tiefere Schichten von Begebenheiten, die unbedingt
aufgeschrieben werden müssen. Es war eine Initiation, die
wir an jenem Abend erlebten, und seitdem hat sich etwas
verändert. Jo nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas und
begann.

Er hatte die Einleitung in einem Zug geschrieben, ohne den
Kugelschreiber abzusetzen. Er wußte nicht, ob sie gut war.
Als er sie durchlas, fiel ihm auf, daß er es kaum vermocht
hatte, sie originell zu gestalten. Aber was, zum Teufel, redeten
die Leute, und wie konnte das Gespräch auf eine seltsame
Geschichte kommen? Er wußte es nicht, und er verfluchte
seine kümmerliche Weltkenntnis. Doch schließlich kam
es auf die Einleitung nicht an. Etwas anderes wäre es, wenn
er beabsichtigen sollte, die Geschichte zu verkaufen. Dann
würde ihm jeder Lektor diese Stereotype ankreiden. Für
ihn hingegen genügte es.
    Noch schwieriger war es, stimmige Charaktere zu entwerfen. Er
kam sich wie ein Architekt am Reißbrett vor, denn er kannte
zu wenige Leute, um sie oder eine Mischung aus ihnen zu
beschreiben. So
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