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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen
Autoren: Michael Siefener
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trafen
sie sich? Oder sollte er auf eine solche Rahmenhandlung
verzichten? Aber er mochte derartige Situationen, er las sie
gern, und nur auf ihn kam es an. Sie dienten zur Einstimmung, zum
langsamen Übergang vom Trubel der Welt – Welchen
Trubel hält deine Welt schon bereit? zischte eine
gemeine Stimme in ihm – zu der Ruhe der Erzählung. Und
eine Erzählung mußte für ihn ruhig sein, denn nur
dann konnte er in ihr atmen. Er entschied sich, das Gespräch
in einer Kneipe stattfinden zu lassen. Er wollte eine
existierende Kneipe nehmen, doch er kannte keine. Da erinnerte er
sich daran, daß er jedesmal, wenn er zu einem bestimmten
Antiquariat in der Innenstadt ging, an einer Wirtschaft mit dem
seltsamen Namen Bieresel vorbeikam. Kölns
ältestes Muschelrestaurant, stand auf einer Tafel.
Hoffentlich waren die Muscheln nicht genauso alt. Natürlich
würde er für seine Recherchen diese Kneipe nicht
betreten, er konnte sich keinen einsameren Ort als eine
menschenvolle Wirtschaft vorstellen, aber es würde ihm
erlauben, die Handlung zu lokalisieren. Er brauchte das Interieur
ja nicht zu beschreiben. Und er würde die Ich-Perspektive
nehmen, sie schätzte er am meisten, denn dann konnte er sich
während des Schreibens mit dem Handelnden
identifizieren.
    Am Abend setzte er sich hin und begann.

Wie an jedem Freitagabend saßen wir im Bieresel zusammen, tranken und kamen uns witzig und intellektuell vor. Wer
sollte uns schließlich bestätigen, daß wir tolle
Kerle waren, wenn nicht wir selbst! Irgendwann nach vielen Runden
und tiefsinnigen Diskussionen über die Moral in der Kunst,
das Dilemma der Politik, die Spezialeffekte des neuesten
Horrorfilms und die Brüste der Kellnerin, schlug Alex vor,
jeder von uns solle einmal eine Geschichte erzählen, ganz
altmodisch, über etwas, das er nicht verstanden hatte.
    »Oh, da gibt es viel zu erzählen«, warf
Justus ein, »die Nacht wird nicht reichen.«
    »Nein, nein, du verstehst mich wieder falsch«,
sagte Alex und sog heftig an seiner Pfeife, von der er sich
erhoffte, daß sie ihm Würde verlieh. Doch er sah mit
seinem glattrasierten Gesicht, den hellblauen Augen und dem
wuscheligen Haarschopf nur wie jemand aus, der einen Erwachsenen
nachahmt. »Ich meine damit, daß wir alle sicherlich
schon einmal etwas erlebt haben, das mit rationalen Argumenten
nicht mehr zu erklären ist.«
    Ein Aufstöhnen ging durch die Runde.
    »Gespenstergeschichten…«, seufzte
Justus.
    »Tu uns das nicht an. Wir leben nicht mehr im
achtzehnten Jahrhundert, sind nicht Shelley, Byron und Mary
Godwin«, fügte Günter hinzu, der gern
Schriftsteller zitiert und sich dabei einbildet, zu ihnen zu
gehören.
    »Von Polidori ganz zu schweigen«, setzte ich nach,
denn auch ich wollte meine Bildung glänzen lassen.
»Aber die Zusammenkunft in der Villa Diodati fand im
frühen neunzehnten Jahrhundert statt, exakt im Jahre des
Heils 1816.«
    »Wen interessiert’s?« versetzte Alex.
»Außerdem ging es damals nicht um erlebte, sondern um
ersonnene Geschichten. Nein, ich möchte, daß jeder von
uns ein eigenes unheimliches Erlebnis zum besten gibt.«
    »Welch originelle Idee«, spöttelte Justus,
»man kann sie nur mit einer weiteren Runde ertragen.
– Püppchen!«
    Die Kellnerin, die nach dieser Anrede ihren hübschen Mund
verzog, brachte noch einmal fünf Bier.
    Alex ließ sich aber nicht entmutigen und begann seine
Geschichte zu erzählen. Zuerst dachte ich, daß er
tatsächlich etwas auf dem Herzen habe und uns eine bestimmte
Begebenheit berichten wolle, die sein Gemüt erregt hatte.
Doch er wollte nichts als glänzen. Seine Erzählung
über einen einsamen nächtlichen Waldspaziergang, bei
dem Geräusche zu ihm drangen, die er nicht identifizieren
konnte, war ausgesprochen langweilig. Es wurde nicht einmal
interessant, als er schilderte, wie die Geräusche
plötzlich auf ihn zu eilten und ihn durch den halben, ach,
so dunklen und unheimlichen Wald jagten. Die Reaktionen auf sein
Garn waren entsprechend amüsiert.
    Doch während er fabulierte, hatte sich offenbar jeder von
uns eine eigene Geschichte überlegt, denn nun war niemand
mehr abgeneigt, den Reigen fortzuführen und den Vorredner zu
übertreffen. Justus berichtete von einer Vorahnung, die
tatsächlich eingetreten war. Günter hatte gar eine
kleine Horrorgeschichte von schleimigen Wesen in der U-Bahn
ersonnen, die mir sehr bekannt vorkam; wir hatten offensichtlich
kurz
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