Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ninotschka, die Herrin der Taiga

Ninotschka, die Herrin der Taiga

Titel: Ninotschka, die Herrin der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
anderen Seite, getrennt durch zwei Gitter und einen Gang, antworteten ihnen die Frauen.
    »Nikolka!«
    »Andrej!«
    »Grigorij!«
    Alle Qual, alle Sehnsucht, alle Liebe brachen sich Bahn in diesen stammelnden Rufen, den verzweifelten Versuchen, sich durch die Gitter die Hände zu reichen. Aber der Gang war breit, und die Arme der Gefangenen wurden von den fünf Wachsoldaten wortlos zurückgestoßen, wenn diese ihre Strecke abschritten, hin und her, mit steinernen Gesichtern, ohne nach rechts oder links zu blicken.
    Die Soldaten hatten ihre strengen Befehle, und sie wußten, daß man sie beobachtete, ob sie irgendwelche mitleidige Regungen zeigten. Viele der Offiziere, die sie jetzt bewachten, waren einmal ihre Kommandanten gewesen, und die Namen der hohen Adligen, der Fürsten und Grafen kannte jeder in St. Petersburg. Man hatte die hohen Herrschaften beneidet, war vor ihnen niedergekniet und hatte ihnen untertänigst die Hand geküßt. Und jetzt standen sie zerlumpt und schmutzig an einem Drahtzaun, streckten die Hände durch die Maschen und weinten.
    Brüderchen, welch eine Welt! Drehte sie sich plötzlich andersherum?
    Langsam ging Borja Stepanowitsch Tugai an dem Zaun entlang, bis er Ninotschka entdeckte. Sie stand als letzte in der langen Reihe, winkte und weinte, drückte das schöne, schmale Gesicht gegen die Maschen und rief immer wieder: »Borja, Borjenka! Mein Liebling! Mein Liebling …«
    Tugai blieb stehen. Er lehnte sich gegen den Zaun und blickte Ninotschka an. Um seine Stirn lag ein breiter, blutverkrusteter Verband, die Uniform war zerrissen, die Hosen hingen in Fetzen an ihm herunter. Auch um das Knie trug Borja einen Verband, und er hinkte etwas beim Gehen. Sein junges, ehemals strahlendes Gesicht war bleich und eingefallen. Er sah fremd aus. »Ninotschka«, sagte er. »Ninotschka, warum bist du gekommen? Du mußt mich vergessen.«
    »Ich gehöre zu dir!« rief sie zurück. Sie mußte rufen in dieser Woge aus Weinen und Schluchzen, sonst hätte er sie nicht verstanden. »Ich bleibe immer bei dir.«
    »Es hat keinen Sinn mehr, Ninotschka.« Tugai drückte das bleiche Gesicht gegen den Maschendraht. Ein Wachsoldat marschierte in der Gasse an ihm vorbei und schielte aus den Augenwinkeln zu ihm hin. »Morgen ist die Gerichtsverhandlung. Sie werden uns alle erschießen lassen. Der Zar kennt kein Erbarmen. Aber wir werden sterben wie ehrenhafte Männer. Wir wollten nur das Beste für Rußland.«
    Sie sahen sich an, versuchten wie die anderen, ihre Hände durch den Drahtzaun zu stecken, aber es fehlten zehn Zentimeter von Fingerspitze zu Fingerspitze. Eine lächerliche Entfernung, aber doch so weit wie von Stern zu Stern.
    Borja und Ninotschka sprachen eine ganze Zeitlang gar nichts, nur ihre Augen waren ein einziges Rufen, ihre Lippen zitterten, und ihre Hände, so nahe beieinander und doch unüberwindbar getrennt, zitterten und tasteten nacheinander und sagten alles, was in ihren Herzen war.
    Vier Meter weiter stand die Fürstin Trubetzkoi in ihrem bodenlangen Zobelmantel und sprach mit ihrem Mann wie auf einem Ball im Winterpalast. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie laut. »Die Trubetzkois waren immer Helden. Was auch geschieht, mein Liebling, blick in den Himmel und vertrau auf Gott. Einmal wird die Freiheit über Rußland kommen, und dann wird man auch deinen Namen nennen.«
    »Keine revolutionären Reden!« brüllte der wachhabende Offizier, ein Hauptmann der Garde. Er ging hinter den Frauen her und überspielte mit diesem Brüllen seine eigene Ergriffenheit. »Ich lasse den Besuch abbrechen! Nur private Gespräche, meine Herrschaften!«
    »Der Zar wird euch nicht hinrichten!« sagte Ninotschka zu Borja. »Väterchen war bei ihm. Der Zar will ein gütiger Herrscher sein.«
    »Es hat in Rußland noch nie einen gütigen Zaren gegeben«, entgegnete Borja finster. »Warum sollte Nikolaus der Erste anders sein!«
    »Er plant Reformen.«
    »Reformen in Rußland wurden immer mit Blut geschrieben. Aber wir sind stolz darauf, daß es unser Blut ist.«
    »Keine revolutionären Reden!« schrie der Hauptmann wieder.
    »Laß uns in Ruhe!« brüllte einer der Gefangenen zurück. »So kurz vor dem Tod können wir sagen, was wir wollen! Es lebe die Freiheit!«
    Stille trat ein. Und dann wiederholte die Fürstin Trubetzkoi laut und deutlich: »Es lebe die Freiheit!«
    Der Hauptmann starrte sie betreten an. Jeder erwartete, daß nun der Befehl kam, den Hof sofort zu räumen. Die Wachsoldaten nahmen die Gewehre in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher