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Niemand

Niemand

Titel: Niemand
Autoren: Nicole Rensmann
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Furcht verspürt hatte, kurz bevor sie den Wald verlassen und die hochgewachsene Wiese betreten hatte. Es hatte sich zuerst wie ein Sonnenstrahl angefühlt, der ihren Körper erwärmte, aber die Sonne war nicht durch das dichte Blätterwerk des Waldes gedrungen. Nina hatte sich umgesehen, dann hatte sie leise Stimmen gehört und mit diesen war die Angst gekommen. Verwirrt war sie weitergerannt, bis sie erschöpft auf der Wiese zusammengebrochen war, wo Niemand sie gefunden hatte.
    Niemand.
    Wie können Eltern ihr Kind so nennen? Von seiner Mutter hatte Niemand noch nicht geredet. Er sprach nur von Niemand Sonst und Überhaupt Niemand. Nina schüttelte den Kopf. Was bedeuteten diese Namen? Sie selbst hatte einmal nachgeschlagen, ob der Name Nina von einer weisen Göttin abstammte, und gelesen, dass es die Abkürzung eines anderen und dieser wiederum die Ableitung eines weiteren Namens war. Beide hatte sie wieder vergessen. Nichts Besonderes.
    Doch Niemand – das war kein Name, das war eine Bezeichnung für Jemanden, der gar nicht existierte. Aber Niemand gab es!
    Sie sah ihn nicht, aber sie spürte seine Anwesenheit, es fühlte sich gut an, bei ihm zu sein.
    Schon eine Weile säumten Blumenbeete den schmalen Pfad. Einige der farbigen und übergroßen Blüten sahen aus wie Schmetterlinge, andere wie dicke, flauschige Bälle oder lachende Gesichter.
    »Was sind das für Blumen?«
    »Phantastinaken, die blühen auf dieser Seite des Landes besonders gut.«
    Kurz darauf schwebte eine rosenähnliche, lila-gelb-rot-weiß-gestreifte Blume vor Ninas Gesicht. Sie griff danach und steckte sie sich hinters Ohr.
    »Danke!«, flüsterte sie.
    Niemand schwieg.
    »Wie weit ist es bis zu deinem Thron?«
    »Möchtest du eine Pause machen? Oder doch zurückgehen?«
    Nina schüttelte den Kopf. Nein, sie war viel zu aufgeregt. Nach Hause wollte sie nicht, dort bekäme sie geschimpft und Stubenarrest. Aber hier fühlte sie sich nicht wie Nina, sondern wie Alice im Wunderland. Nur, dass hier das Niemandsland war. Ein Land, das von einem Sohn beherrscht wurde, dessen Vater und Onkel anscheinend ziemliche Blödmänner waren, von denen einer nach verfaulter Apfelkitsche und schimmeligem Butterkäse stank. Sie kicherte.
    »Was ist?«, fragte Niemand.
    »Ich musste nur an die Kreischzwerge denken.«
    »Deine Haare sehen wirklich nicht schlimm aus. Mach dir keine Sorgen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Mach ich nicht!«
    Nina war noch nie mit einem Jungen gegangen. Na ja, sie wusste nicht, ob Niemand ein Junge war. Seine Stimme klang danach. Vielleicht war er auch ein übergroßes Laberkoppmänneken mit Beinen – oder ein Zauberer. Oder ein Zwerg? Nein, ein Zwerg konnte er nicht sein, dafür fühlten sich seine Hände zu groß an, und außerdem hatte Nina seinen Kopf, seine Schulter und den Hals gespürt, als sie sich an ihn gelehnt hatte. Aber wenn sein Gesicht dem eines Esels oder Fuchses glich? Oder sein Mund wie eine Schweineschnauze aussah? Vielleicht besaß er Fangzähne, länger als ihr Unterarm?
    »Niemand?«, fragte sie vorsichtig. »Hast du dich selbst noch nie gesehen?«
    »Nein, noch nie.«
    »Das ist furchtbar.«
    »Gibt es bei dir, in deinem Land, keine Unsichtbaren?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    Schweigend gingen sie durch das kniehohe Gras. Dann wollte Nina unbedingt wissen, ob er seinen Vater und seinen Onkel von Angesicht kannte, doch Niemand verneinte wieder.
    »Ich lege auch keinen Wert darauf, einen der beiden zu sehen. Mir reichen deren Gerüche und die Worte, die ich oft genug zu hören bekomme. Ich hasse meinen Vater.«
    »Was ist mit deiner Mutter?«
    Als Nina glaubte, Niemand würde den Rest des Weges kein Wort mehr mit ihr reden, und sie ihre Neugier bereute, antwortete er: »Meine Mutter kenne ich nicht. Sie ist gestorben.«
    »Das – das ist schrecklich.«
    »Mein Vater hat das gesagt.«
    »Er hat das gesagt? Glaubst du ihm nicht?«
    »Wie soll ich ihm glauben, wenn wir uns nicht in die Augen sehen können?«
    Darauf wusste Nina keine Antwort und sie beschloss, Niemand nicht mehr auf seine Mutter anzusprechen.
    Sie hatten die Blumen – die Phantastinaken – hinter sich gelassen. Die Umgebung war öde. Weder Blumen noch Bäume oder Gräser wuchsen hier, ringsherum nur trockene Steppe, die am Horizont, wie mit einer Schere abgeschnitten, endete.
    Der Boden war trocken und rissig. Kleine, aber auch größere Steine lagen als Stolperfallen herum. Nina wusste, dass Niemand noch neben ihr herging, weil er Kieselsteine
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