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Niemand

Niemand

Titel: Niemand
Autoren: Nicole Rensmann
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vor. Der Teufel wetzte das Rasiermesser mit viel Eifer, dass sich das Metall erhitzte. Jedes Mal verbrannte er sich seine Haut beim Rasieren, und das schon seit mehreren Tausend Jahren. Feuerrot lief er dann durch das Niemandsland, jammerte jedem die Ohren voll, auch denen, die es nicht hören wollten, und jenen, denen er es schon hundertfach zuvor erzählt hatte.
    Alle lachten über ihn. Der Teufel hatte eine Macke. Aber das war das kleinste Problem, hier im Niemandsland.
    Denn Überhaupt Niemand und Niemand Sonst kämpften um den Thron. Sie stritten nicht laut wie die Laberköppe und beschwerten sich auch nicht über die eigene Dummheit wie der Teufel.
    Über ihre hinterhältige und in aller Stille ausgefochtene Zwietracht vergaßen sie den, der wirklich wichtig war: Niemand!
        

1.

    Niemand nahm einen salzigen Geruch wahr: Verzweiflung. Dann entdeckte er das kleine Ding, das versteckt zwischen den hohen Grashalmen hockte. Niemand war sicher, dass es vorher noch nicht dort gesessen hatte, denn er war an diesem Morgen schon ein paar Mal hier vorbeigekommen. Er wollte allein sein. Und immer, wenn er allein sein wollte, ging er am Weg zu der Welt entlang, die kein Niemandsländer je gesehen hatte, von der jeder im Niemandsland jedoch alles besser zu wissen glaubte. Stundenlang wanderte er dann auf und ab, blickte wiederholt über die Grenze, die nicht durch einen Zaun kenntlich gemacht werden musste, und naschte von den wilden Früchten. Wer den Wall überschritt, war für immer verloren, hieß es. Niemand hatte es noch nicht ausprobiert, obwohl er nichts zu verlieren hatte – nicht einmal sich selbst. Manchmal stand er nur da, so lange, bis der Kopflose Reiter erwachte und ihn auf seinem Schimmel nach Hause brachte. Sobald die Sonne aufging, zogen sich die Statuen in ihre Starre zurück, nichts blieb als kalter, toter Stein – einen Tag lang. Sie schliefen, wenn die Niemandsländer wachten.
    Zum ersten Mal hatte die Müdigkeit Niemand mitten am Tag übermannt, er hatte sich in das Gras gelegt und war sofort eingeschlafen. Niemand hatte geträumt. An den Traum erinnerte er sich später nicht mehr, er wusste nur, dass der Schwarze Mann nicht darin vorgekommen war. Schon lange hatte Niemand nicht mehr so tief und erholsam geschlafen. Als Niemand erwachte, war es noch immer hell, die Sonne hatte sich anscheinend kein Stück voranbewegt.
    Und nun saß wenige Schritte vor Niemand dieses Ding, das sich während seines Schlafs angeschlichen haben musste. So klein war es nicht, eigentlich schien es nicht viel kleiner, als er selbst zu sein. Ob es aus den Wäldern gekommen war? Oder in den Katakomben unter dem Niemandsland lebte? Aber für einen Zwerg war es zu groß. Und nach einem behaarten Schweinehund, der sich nur selten überwand, aus seinem Loch zu kriechen, sah es auch nicht aus.
    Glasperlen, die in der Sonne wie Diamanten funkelten, rollten über seine Wangen und verschwanden, sobald sie vom Kinn hinunterfielen. Es musste ein Zauberer sein. Aber für einen Zauberer schien es zu verwirrt – dieses kleine Ding. Vielleicht war es eine Elfe oder eines von diesen Dreikäsehochs, die auf der anderen Seite des Stillen Wassers lebten? Aber Niemand hatte sich die Dreikäsehochs anders vorgestellt. Größer, gelb und frech; nicht so eingeschüchtert. Es hielt die Arme um die Knie geschlungen und wiegte sich hin und her.
    Niemand setzte sich neben das weinende Ding und beobachtete es. Rotz lief ihm aus der Nase, den es mit dem Ärmel seines Pullovers wegwischte. Ekelhaft!
    Aber es hatte schöne blaue Augen – dieses Ding –, dunkelblau schimmerten sie, wie Veilchen bei Vollmond. Und doch sah Niemand darin, wie traurig es war. Er bekam Mitleid – und immer wenn er Mitleid bekam, musste auch er weinen. Er schluchzte leise. Das kleine, weinende Ding sah sich erschrocken um. Es weinte nicht mehr, nun stank es nach Angst. Niemand hasste diesen säuerlichen Geruch, der mit der Zeit aus jeder Pore kroch und den gesamten Körper überzog.
    »Wer ist da?«
    Die klare Stimme des Dings verschlug ihm für einen Moment den Atem, dann antwortete er hastig: »Niemand.«
    Es sah in alle Richtungen, die Angst roch nun widerlich bitter. »Bitte tu mir nichts.«
    »Was machst du hier? Ich habe so etwas wie dich noch nie gesehen.«
    »Ich habe mich verlaufen«, flüsterte das Ding und sagte lauter: »Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.«
    »Das ist normal. Ich bin Niemand.«
    »Wie meinst du das, du bist niemand?«
    Die Angst
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