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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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dass sie den Weg nicht fanden oder sich gar verliefen: optimistische und pessimistische Berechnungen, damit böse Überraschungen ausgeschlossen werden konnten–, stimmten ohnehin nicht: sie waren langsamer, als er für möglich gehalten hatte. Und noch befanden sie sich auf dem einfachsten Teil, der leicht zu berechnen gewesen war. Für den geraden Kiesweg und den Zickzack-Pfad brauchten sie, da insgesamt sechshundert Höhenmeter zu überwinden waren, etwa zwei Stunden; am Nachmittag, auf der großen Ebene, die Louise aufgrund der Flachheit gefallen würde, benötigten sie dreieinhalb Stunden, um zur Hütte zu gelangen, in der sie übernachten wollten.
    Doch bereits jetzt, noch auf dem Zickzack-Pfad, waren sie zwei Stunden unterwegs, wegen des langsamen Tempos, vor allem wegen der unnötigen Pausen.
    André mahnte sich zur Ruhe. Louise war die Steigung nicht gewohnt, was sich vor allem am Anfang bemerkbar machte. Morgen ginge es bestimmt besser. Der Kreislauf passte sich schnell an. Und wenn das Wetter mitspielte und Louise hingerissen war von einer Aussicht, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie gehabt hatte, wanderte es sich wie von selbst.
    » Ich bin gespannt, wie oben das Wetter ist « , sagte er und blieb stehen. Louise, die direkt hinter ihm ging, stieß mit ihrem Kopf gegen seinen Rucksack, da sie zu Boden geblickt hatte, und fluchte kurz.
    » Mit meinem Smartphone könnte ich jetzt im Internet nach dem Wetter schauen « , sagte sie. » Dann wüssten wir immerhin, ob sich der Aufstieg lohnt. «
    André hielt inne. Was, zum Teufel, meinte sie damit? Dachte sie daran, die Wanderung abzubrechen? Ohne zu antworten, ging er weiter, verärgert über ihre Worte. Merkte sie denn nicht, dass sie die besser werdende Stimmung wieder zerstörte?
    Es stimmte, dass sie auf seinen Vorschlag hin ihre Mobiltelefone zu Hause gelassen hatten. Man konnte ohne diese Geräte die Natur besser genießen, war befreit von der Internetsucht, von Anrufen und Kurzmitteilungen, und selbst in einer Notsituation waren die Geräte nicht mit Sicherheit zu gebrauchen, da man in den Alpen nicht überall Empfang hatte. Kaum hatte er diese Argumente ausgesprochen gehabt, war Louise einverstanden gewesen; die Mobiltelefone blieben zu Hause. Das kam ihr gerade recht, erzählte sie doch immer wieder, dass sie ihre Internetsucht nicht richtig in den Griff kriege, Anrufe in den ungünstigsten Situationen sie nervten und das Beantworten von Kurzmitteilungen viel mehr Zeit brauche, als man denke.
    Dass Louise ihm nun in den Rücken fiel und ihm die Schuld dafür gab, dass sie die Mobiltelefone nicht dabeihatten, empfand er als ungerecht. Eine unnötige Provokation ihrerseits mit dem einzigen Zweck, rumzustänkern und die Stimmung kaputt zu machen.
    André schritt wieder zügiger voran, ging in seinem Tempo, das ihn weniger Kraft kostete. Der Pfad war inzwischen schmaler und steiler geworden, linker Hand zeichnete sich durch den Nebel eine Felswand ab, die an einer Stelle überhängend war, und rechter Hand hatte ein Erdrutsch eine Art Piste aus Schutt und Erde geschaffen. Auf Andrés Stirn vermischte sich der Regen mit Schweiß.
    Allmählich klarte es auf. Der Nebel trieb hinunter in das Tal, und nur noch ein letzter, sich auflösender Rest des grauen Meeres behinderte die Sicht. André erhöhte noch einmal das Tempo. Er wollte endlich über dem Nebel sein, ihn bezwungen haben. Jetzt durfte er sich verausgaben, denn oben würden sie eine längere Mittagsrast einlegen, sofern es die Witterung zuließ. Und selbst wenn es regnete und stürmte: irgendwo würden sie ein geschütztes Plätzchen finden, hinter einem Felsen oder unter einer Wettertanne.
    Das steile, bereits gebirgige Stück unter sich, stellte André fest, dass der Pfad hier wieder in breiterem Zickzack hinaufging– und der Nebel sich aufgelöst hatte. Unmerklich hatte er sich davongestohlen, in die Weiler und Dörfer hinunter, wo er den Leuten auf die Stimmung drückte.
    Hier oben, am Hang, war die Sicht inzwischen passabel, wenn auch dunkle Wolken nur wenig Licht hindurchließen. Auf zweihundert, dreihundert Meter Entfernung waren Bäume und Felsen erkennbar, aber wie in einer einsetzenden Abenddämmerung. Dabei war später Vormittag.
    André schaute zurück, nach unten, sah einige Sekunden dem Hinabtreiben des riesigen Nebelmeeres zu, in dem Louise noch steckte. Auch sie hatte es bald geschafft.
    Beim Weitergehen schaute er einen Moment lang nach oben: ein kurzes, steiles Stück lag noch
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