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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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sich hin schaute. Sie aß das von den tiefen Temperaturen kalt gewordene Ei, das ihr später schwer im Magen liegen würde, dann nippte sie am Kaffee, der kalt zu werden drohte. Das Sandwich lag noch immer auf dem Alupapier.
    André aß mit großem Appetit. Mit Lust trank er aus der Wasserflasche; für ihn gab es nichts Besseres als Leitungswasser.
    Erste Tropfen fielen, einzeln und schwer; wuchtig klatschten sie auf ihre Köpfe. André sah, wie ein solcher riesiger Tropfen, als Louise das Gesicht hob, auf ihre Nase prallte und zerstieb, auf die Wangen und in die Augen. Sie zuckte zusammen vor Schmerz; mit den Zeigefingern rieb sie die geschlossenen Lider. Dann prasselte der Regen los, und Louise hörte mit Reiben und Abtrocknen auf.
    » Verdammt nochmal « , sagte sie, den Kaffee in der Hand, in den es hineinregnete und von dem bei jedem einzelnen Tropfen ein wenig herausspritzte.
    » Unter die Wettertanne? « , fragte André.
    Sie packten ihre Sachen zusammen und liefen durch den Wolkenbruch zur Tanne hinüber, André mit seinem Rucksack, dem Sandwich und der Wasserflasche, Louise mit Sandwich und Kaffeebecher. Sie setzte sich sofort ins Trockene; er lief noch einmal los, um ihren Rucksack zu holen.
    Er wusste: Ein solcher Regen konnte in den Bergen, wenn die Wolken hängen blieben, lange anhalten. Wichtig war, dass die Kleider unter den Regenjacken nicht nass wurden und dass sie, was doch nass war, am Abend in der Hütte trocknen konnten. Ihre Schlafsäcke durften auf keinen Fall feucht werden; in den Rucksäcken waren sie jedoch gut geschützt.
    Als er mit dem Rucksack bei Louise ankam, saß sie reglos da, die Unterarme auf die Knie gelegt, in der Hand den Kaffee, und starrte auf ein Stück Boden, das außerhalb des Schutzkreises der Tanne lag, vielleicht auf ein Büschel Gras, dessen Halme von den herunterfallenden Tropfen traktiert wurden wie vorher ihre Nase. Von dem Sandwich hatte sie nur einen oder zwei Bissen gegessen.
    » Wir hätten uns also auch im Hotel einen schönen Tag machen können « , sagte sie, ohne ihn anzusehen.
    » An einen Tag im Hotel würdest du dich später aber nicht erinnern « , sagte er, » an diesen hier schon. «
    Sie schwieg. Er wusste nicht, ob sie über seine Worte nachdachte, unschlüssig, inwiefern er vielleicht Recht hatte, oder ob sie mit seiner Meinung nichts anfangen konnte. Sie schaute humorlos und trüb, so trüb wie das Wetter, dem Regen zu, den unzähligen Tropfen, die herunterfielen.
    Dabei hatten sie Glück: Unter der Wettertanne blieb eine Fläche von etwa vier Quadratmetern trocken, ein Rastplatz von komfortabler Größe. André fühlte sich wohl unter den langen und dichten Tannenästen. Konnte es etwas Romantischeres geben, als hier zu sitzen, während es nebenan in Strömen regnete?
    Bei den Pfadfindern hatten sie mit drei Militärblachen Zelte gebaut, sogenannte Gotthard-Zelte, die für drei Personen Platz boten. In einer Nacht, als es heftig und unaufhörlich regnete, hatte er als Fünfzehnjähriger mit einem Mädchen geknutscht; der Regen machte einen solchen Krach, dass man sie nicht hörte, und der Kamerad rechts außen schlief wie ein Bär, mit offenem Mund. Auf der Innenseite des Daches rannen in regelmäßigen Abständen Tropfen herunter, herunter zu den Füßen, und an einer anderen Stelle fielen gar welche mitten auf den Zeltboden. Aber das Mädchen und er lagen so eng umschlungen, dass sie nicht nass wurden oder zumindest nur wenig; dennoch hatten sie kaum schlafen können und blieben am Morgen noch lange liegen.
    Das war Romantik! Wie viele verregnete Tage in Sommerlagern hatte er erlebt, an denen sie im Küchenzelt ausharren mussten, sich am Feuer wärmend, über dem einige Kleider zum Trocknen aufgehängt waren, die später penetrant nach Rauch rochen? Dieses Herumsitzen und In-den-Regen-hinaus-Starren kannte er nur zu gut– man durfte nicht depressiv werden, musste miteinander reden, ein Brett- oder Kartenspiel machen; am besten jedoch war, gemeinsam etwas zu kochen. Das half immer gegen eine sich schleichend verbreitende schlechte Stimmung.
    André stand auf und schaute unter der Tanne hervor. Von der großen Ebene war noch weniger zu sehen als vorher; eine beinahe nächtliche Dunkelheit hatte sich auf sie gelegt, als verschwände in einem riesigen Rachen, wer diesen Weg auf sich nähme. Er wusste, dass man solche Eindrücke nicht ernst nehmen durfte; die Landschaft, die an einem Sonnentag harmlos und freundlich aussah, blieb auch bei schlechtem
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