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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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derselbe André, der vor einigen Tagen aufgebrochen war, wäre er noch ein geselliger Kerl, ein Mann mit Frau, einer, der mutig Abenteuer in der Natur suchte? Wäre er denn noch ein Mensch?
    War vielleicht der Abstieg nur noch physisch möglich, bliebe seine Seele, auf die eine oder andere Weise, für immer auf dem Berg? Wäre dieser Schrecken, die Todesangst jemals zu therapieren?
    Noch einmal trat er von oben an die Kletterwand heran, und noch einmal wurde ihm bewusst, dass er denselben Weg auf keinen Fall zurückgehen konnte. Vorwärts musste er gehen– für ihn hatte es stets nur ein Vorwärtskommen gegeben. Er trat dicht an die Ränder des Gipfels heran, robbte auf dem Bauch so weit hinaus wie möglich und schaute hinunter, auf der Suche nach einem Abstieg.
    Er musste sein Glück erzwingen. Er musste zu Louise, vorwärts zurück in das Leben. Er musste Louise retten und sich selbst. Eine neue Abstiegsroute musste er finden, die ihn zurück in sein altes Leben brachte.
    Da öffnete sich ein Spalt, und André brach ihn sogleich ganz auf, die Augen starr auf die mögliche Route gerichtet. Sie befand sich neben der Kletterwand, auf der anderen Seite des Gipfels, war nicht überhängend, nicht einmal senkrecht, aber– wie weit hinunter sie führte! Nicht neun Meter wie die Kletterwand, sondern hundert Meter? Zweihundert? Bis in das Tal hinunter, zu Louise, in die Zivilisation?
    Ein grauenhafter Abgrund war das. An keiner Stelle senkrecht, aber zu steil, um Halt zu finden, wenn man fiele oder ins Rutschen käme. Hier galt es, neun Meter hinunterzuklettern, dann, auf gleicher Höhe bleibend, weiter nach links, hinüber zum Beginn der Kletterwand, wo der Rucksack lag.
    Technisch musste das machbar sein, kräftemäßig– irgendwie würde er es schaffen. Aber dieser Abgrund! Die Vorstellung, da hinunterzugleiten, zu verschwinden in diesem Schlund aus Schnee und Eis, tot oder schwer verletzt irgendwo liegen zu bleiben und später im Sommer, wenn der Schnee geschmolzen war, eine stinkende Leiche zu sein auf kantigem Schutt, von der Sonne ausgedörrt.
    Diese Gedanken galt es zu vertreiben. Durch die Vorstellung zu ersetzen, dass er in der Kletterhalle beim Bouldern war, an einer Wand, die nur drei Meter hoch war und unter der eine dicke, weiche Matte lag, sodass er bedenkenlos ohne Seil klettern konnte.
    André glitt über die Kante. Auf dem Bauch, die Füße voran, die mit den Spitzen, den toten Zehen blind nach Grund tasteten, die halb erfrorenen Finger in den Schnee gekrallt. Hier lag, anders als bei der senkrechten, teilweise überhängenden Kletterwand, Schnee, wenn auch nicht viel, da Südseite. Wenn er den Kopf so halten konnte, dass ein Blick nach unten möglich war, glaubte er Steine zu sehen, bedeckt von einer dünnen Schicht Schnee; er wusste nicht, ob sie hielten oder lose in kleinen Mulden lagen. Jeden Stein musste er testen, indem er einen Fuß auf ihn setzte, langsam mehr und mehr Gewicht daraufgab, bis er ihm sein Leben anvertraute. Er hielt mit der Vorderseite des Körpers den Kontakt mit der Wand; die Reibung bot zusätzlichen Halt. Er rutschte mehr, als dass er kletterte, wie ein verängstigtes Kind.
    Auf diese Weise gelangte er gut drei Meter hinunter, machte alles richtig, indem er stets mit der Wand verschmolzen blieb, wie die Eidechsen, von denen er Louise erzählt hatte. Doch jetzt– was löste sich? Die Hand? Ein Stück Schnee? Die ganze Wand?
    Er rutschte, kam weiter ins Rutschen. Geistesgegenwärtig fuhr er Arme und Beine auseinander, sodass sie ein weites Kreuz bildeten für maximalen Halt– nichts, nichts nützte das! Aber schon spürte die linke Hand, die weiter unten lag, etwas Festes, eine Eisscholle vielleicht, doch dieser unmittelbare Halt bewirkte, dass der rechte Arm plötzlich durch die Luft schwang und drohte, den in Schräglage geratenen Körper mitzureißen, den ganzen Körper weg von der Wand, schlundwärts auf den Rücken zu drehen. Der linke Arm hielt von unten dagegen, fest, bis ein Schmerz den bereits lädierten Ellbogen durchfuhr, der nach innen gedreht wurde und nachgab.
    Wo waren die Beine, die Füße? Gerade jetzt, als der rechte Fuß auf Grund kam, ein unheimlicher Stich im Knie, das sich sofort beugte, niedersank und in Schmerzen aufging.
    Und André fiel. Flog rückwärts durch die Luft, Meter für Meter, Sekunde um Sekunde, so viel Zeit verstrich, und endlich schlug er auf. Der Oberschenkel schmetterte auf Eis und wurde zu Eis. Der Rücken schlug auf Schnee und wurde
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