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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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Nein, er lebte. Aber lebte er auch in einer Minute noch?, in dreißig Sekunden?, in fünf Minuten? Wann holte der Tod ihn? Wann machte er einen Fehler und starb? Wann vergaß er, dass er nicht einschlafen durfte, und starb? Wann starb er, oder überlebte er?
    André lief davon. Abhauen wollte er, sich davonmachen. Aber da er Angst hatte, in der Dunkelheit vom Berg hinunterzustürzen, lief er in einem kleinen Kreis, immerfort, den Tod im Nacken.
    Und dann, bei diesen panischen Bewegungen, die ihn aufzuwärmen begannen, erinnerte er sich an etwas. Vor langer Zeit, noch bei den Pfadfindern, hatte er von einem Fall gelesen, einem Mann, der an einem Abend im Hochsommer aus Versehen in ein Kühllager eingeschlossen worden war. Die Temperatur lag bei minus zwanzig Grad oder noch tiefer, und der Mann war nur leicht bekleidet gewesen. Er war auf die Idee gekommen, sich warmzuhalten, indem er Kisten schleppte, von denen im Lager massenweise herumstanden. Er trug Kiste um Kiste und baute mit ihnen eine Pyramide, die er, kaum stand sie, wieder ab- und an anderer Stelle abermals aufbaute. Er arbeitete die ganze Nacht, denn solange er die schweren Kisten trug, fror er nicht. Am nächsten Morgen, als die Arbeiter das Kühllager aufschlossen, fanden sie ihn, eine Kiste schleppend. Der Mann war mit seinen Kräften am Ende, aber er hatte überlebt.
    Das war die Lösung. Er musste in Bewegung bleiben! Damit er beim Hin-und-her-Gehen nicht abstürzte, beschloss André, als Erstes eine Mauer zu bauen. Vorsichtig ertastete er, wo das Gefälle des Hügels zunahm, schichtete dort Schnee auf, ein niedriges Mäuerchen, gegen das er mit dem Fuß stieße, bevor er hinunterfiele. Dann scharrte er weiter Schnee vom Boden zusammen, umfing ihn mit beiden Armen, schaffte ihn vom einen Ende des Gipfels zum anderen, baute einen Hügel, baute ihn ab, baute ihn am anderen Ende des Gipfels wieder auf, gedachte dies zu tun, bis endlich das Morgengrauen käme.

25 – Louise in Gefahr
    Mehrere Male versprach der Morgen zu kommen, schien der Himmel im Osten erhellt. Doch das Hellwerden zog sich hin. In immer kürzeren Abständen dachte André, der Morgen komme, aber er kam noch nicht.
    Während er Schnee hin und her trug, verglich er das Warten auf den Morgen mit dem Warten auf den Frühling. Bereits im Januar, im Februar deuteten die Sonne und einzelne warme Tage auf das Ende der dunklen Eiszeit hin, man freute sich, konnte den Anstieg der Temperatur kaum erwarten; doch dann ein Rückfall, Schnee, das Thermometer sank tief unter den Gefrierpunkt und mit ihm auch die Stimmung; längst war März, ein schlechter März, verschneit und verregnet, dann vereist, und es kam der April, wärmer zwar, dafür mehr Regen, dann noch einmal Schnee…
    So ging es weiter, ein kalter, regnerischer Juni, ein Juli, der kein Sommer war, und vielleicht blieb dieses Jahr der Sommer ganz aus? André hielt inne; er machte sich Sorgen um seine schmerzenden Zehen, vor allem um jenen mit der Blase, den er nicht mehr spürte. Seit wie vielen Stunden hatte er das Gefühl, in zu kleinen Schuhen zu gehen? Er setzte sich hin und zog den einen Wanderschuh aus, die beiden Socken– wollte er die Wahrheit wirklich sehen? Undeutlich, beschienen vom Sternenhimmel? Dunkle Flecken, Blasen; weich fühlten die Zehen sich an, und sie taten weh. Nur der kleine mit der Blase, der war hart und ohne Gefühl.
    André zog den Schuh wieder an, verzichtete darauf, sich den anderen Fuß anzusehen. Gesehen hatte er genug. Ein Grausen stieg in ihm hoch, den Hals hinauf bis zur Zunge. Er wollte nicht wissen, ob er einen oder mehrere Zehen verlöre. Er kämpfte nicht um seine Zehen; er kämpfte um sein Leben.
    Und dann, nachdem er noch einmal eine halbe oder eine ganze Stunde Schnee hin und her getragen hatte, kam der Morgen. Jetzt war er gekommen, endgültig, und würde sich nicht wieder als Einbildung erweisen. Nicht nur der Himmel war erhellt, nein, die Sonne stand da über unbekannten Gipfeln. Die Sonne, unverfänglich, der Beweis für den neuen Tag.
    Er hatte sie zuerst nicht bemerkt, zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, Schnee zu tragen. Längst waren die Ladungen kleiner geworden, manchmal die Gedanken an den Morgen, den Abstieg, an Rettung verschwunden. Er begnügte sich mit seiner Hubstaplertätigkeit, führte sie weiter aus, obwohl die Sonne schon wärmte, als hätte er vergessen, weshalb er mit dieser Tätigkeit begonnen hatte, zu was sie nutze war. Wie ein Tier, das mit Belohnung auf ein
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