Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
Vom Netzwerk:
Verhalten konditioniert worden war und schließlich das Verhalten endlos wiederholte, obwohl es längst keine Belohnung mehr dafür gab, schleppte er weiter Schnee. Solange er Schnee trug, geschah ihm nichts, musste er sich nicht überlegen, wie es weiterginge, wie er von dem Berg herunterkäme, wie er den Überlebenskampf gewinnen konnte.
    Der Morgen war da, und er machte weiter. Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn noch Nacht gewesen wäre. Obwohl er spürte, dass seine Kräfte nachgelassen hatten und in Kürze noch mehr schwinden würden, begnügte er sich damit, die Ladungen zu verkleinern. Dass er kein Abendessen gehabt, seit Längerem nichts Richtiges mehr gegessen hatte, kümmerte ihn nicht. Die eingesteckten Getreideriegel hatte er noch am Abend verspeist.
    Er war nicht hungrig. Er merkte, dass er zittrig, dass ihm leicht schwindlig war– nein, von Schwindel konnte man nicht sprechen, eher von Schwäche. Er fühlte sich schwach auf den Beinen. Aber noch hatte er Kraft genug, ein wenig Schnee hin und her zu tragen. Ab und an aß er von dem Schnee. Vielleicht konnte er den Berg, auf dem er festsaß, aufessen und so zurück ins Tal gelangen? Wegen dieses albernen Gedankens musste er weder lachen noch weinen; er hielt ihn für nicht völlig abwegig. Wohl war es nicht möglich, den ganzen Berg aufzuessen, aber zweifelsfrei käme er ein Stück weit hinunter. Im Grunde musste er nur die Kletterpartie schaffen. Lag dort unten nicht sein Rucksack? Mit Wasser, Fleischbrühe, Teigwaren, dem Gaskocher?
    Der Gedanke an Essen warf ihn beinahe um. Diese Dinge, diese Spuren von Zivilisation, waren wie ein Teil eines anderen Lebens. Hier oben befand er sich getrennt von ihnen, durch die Kletterstrecke getrennt, und diese Grenze respektierte er. Vielleicht konnte er den Schnee, den er hin und her trug, hinunterwerfen? Möglicherweise entstand so eine Art Rutschbahn, auf der er hinuntersausen konnte?
    Eine Rutschbahn, wie in der Kindheit. Er hatte Verlangen nach einer Rutschbahn, die in Sand oder Kies, mitten auf einen Spielplatz führte. Ein Kindergeburtstag. Sorgte sich denn niemand um ihn? Hatte Louise nicht Hilfe gerufen? Wann kam die Rettungsflugwacht?
    Aber er wusste, dass sie nicht kam. Vielleicht klarte jetzt, mit zunehmendem Sonnenlicht, sein Verstand wieder auf. Hatte er nicht geplant gehabt, am heutigen Tag früh loszugehen, um die Strecke, die vielen Höhenmeter, die gefährlichen Stellen bis zum Abend überwinden zu können? War es schon zu spät? Hatte er, vor lauter Warten auf den Morgen, den Morgen verpasst?
    Zweifelsfrei musste er hinunter, wenigstens die Kletterwand. Er musste zum Rucksack gelangen. Dies war ihm nun in seiner ganzen Bedeutung klar. Aber er konnte doch nicht hinunter. Er getraute sich nicht, fürchtete sich. Dachte er an die bereits zurückgelegte Route, die er nur mit größter Mühe geschafft hatte, trieb ihm das einen kalten Schauer über den Rücken. Sie war ihm nicht geheuer. Er wollte sie nicht wieder klettern. Keinen ihrer Griffe noch einmal berühren. Am liebsten vergessen, sich anderem zuwenden. Die Angst abzustürzen, das Leben zu verlieren– diese Angst wollte er nicht mehr haben müssen. Nein, er wollte die Angst nicht mehr. Lieber blieb er hier oben.
    Er wusste, dass das nicht ging. Oben bleiben konnte er nicht; hinunter konnte er auch nicht. Er weinte ein wenig. Zuerst zögerlich, dann ungehalten, schließlich sah ihn niemand. Und selbst wenn Leute ihn sähen, durch ein Guckloch Louise und die gesamte Menschheit ihn sähe, die Götter auf dem Olymp, die sich über ihn amüsierten– dann war es eben so. Sollte die ganze Welt ihn auslachen, wenn man ihm nur keine Schmerzen zufügte, ihn in Ruhe ließ. Er wollte nicht klettern. Er wollte nicht abstürzen. Lieber hier oben friedlich einschlafen, irgendwann.
    Oder der Deutsche konnte kommen und ihn retten. Jetzt würde er sich von ihm retten lassen, sogar von ihm!, gerne von ihm!, danach würde er ihn auf ein Bier einladen. Im Grunde war der Deutsche ein netter Kerl, für seine Herkunft konnte er nichts. Man wurde irgendwo geboren, in Frankreich, Afrika oder Indien, und wo man starb, war ebenso Zufall. Auf einem Berg zu sterben war so schlecht nicht.
    Aber einsam, schrecklich einsam. Er wollte nicht einsam sterben, wollte nicht im Gebirge verloren gehen wie ein Papiertaschentuch, ein ausgespuckter Kaugummi.
    Er hielt inne, den Schnee in den Armen ließ er fallen. Er sah Louise wandern, talwärts.
    Sie ging durch einen Wald, befand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher