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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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sich unterhalb der Baumgrenze. Auch sie hatte geweint, vielleicht, weil sie wieder an ihn hatte denken müssen, und sie sah müde aus. Die Bäume warfen, da, wo nur wenige standen, lange Schatten; die Sonne schien schräg, es musste Abend sein.
    Als suche sie etwas, so ging Louise. Und als sie vor einer Lichtung stand, schien sie erfreut zu sein. Die mit Gras bewachsene Fläche lag unterhalb des Weges, rings um die Lichtung erhob sich der Wald und mit ihm der Berg. Die Wiese schien geeignet, um das Zelt aufzuspannen, das Zelt, das Louise mitgenommen hatte, und wären sie hier zu zweit gewesen– wie romantisch!
    Durchzogen war die Wiese von mehreren einen halben, ganzen, zwei Meter breiten Gräben; Louise sprang leicht über sie hinweg oder durchschritt sie, ging mehrere Minuten weiter, bis sie die Mitte der Lichtung erreichte. Hier setzte sie den Rucksack ab, zog das Zelt heraus und begann mit dem Aufbau. Sie fädelte die Zeltstangen richtig in die Taschen des Tuches ein, sorgfältig, bedacht. Schon stand das Zelt. Jetzt griff sie in den Rucksack– nahm sie den Gaskocher heraus? Eine Packung Papiertaschentücher.
    Sie sah sich um, ging in eine Richtung davon, schritt über die Wiese zum Wald. Sie verschwand hinter einem Baum. Kurze Zeit später stand sie wieder am Waldrand und schaute auf die Wiese wie auf einen See, als stünde sie auf der Mecklenburgischen Seenplatte! Dachte sie an ihn?
    Gemütlich ging sie über die Wiese zurück, hüpfte über den ersten Graben, blieb stehen, drehte sich um und sah in den Graben hinein. Wasser. Nicht viel. Woher mochte es kommen? Louise ging weiter in Richtung Zelt, übersprang einen der großen Gräben, auch in ihm Wasser.
    Am Übernachtungsplatz angekommen, nahm sie den Gaskocher aus dem Rucksack und positionierte ihn zwei Meter vor dem Eingang des Zeltes. Die Hand im Nacken, überlegte sie wohl, was sie kochen sollte, dann wurde sie aufmerksam. Hörte sie etwas? Ein Rauschen?
    Verwundert, verunsichert– André sah es an ihrer Körperhaltung– ging sie zu einem der Gräben, jenem, der am nächsten beim Zelt lag, und erschrak. Reißendes Wasser! Sie lief zu einem großen Graben. Reißendes Wasser! Überall reißendes Wasser!
    Erstaunlich ruhig ging sie zum Zelt zurück. Sie hatte nicht begriffen! Sie schien noch einmal nachzudenken, vielleicht: War es denn möglich? Ging wieder zu einem der Gräben. Das Wasser jetzt höher, und noch höher stieg es!
    Louise sah sich um, voller Angst. Konnte es sein, dass die Schleuse eines Stausees geöffnet und Wasser abgelassen wurde? War es möglich, dass aus dieser Lichtung für einige Stunden ein See wurde?
    Nun rannte Louise. Sie rannte zum Zelt, brach es ab, verstaute es im Rucksack, warf auch den Gaskocher hinein. War noch Zeit? Kam sie noch über die Gräben? Sie sprang. Sie lief. Etwas fiel aus dem nur halb geschlossenen Rucksack, ihr Buch oder die Wanderkarte. Das Wasser trat bereits über die Ufer. Louise erschrak, ließ das Buch liegen, flüchtete über die Lichtung. Da– ein großer Graben, jetzt ein reißender Bach! Und Louise ging den kürzesten Weg, den vermeintlich schnellsten, knickte ein, stürzte und schlug mit dem Kopf gegen einen Stein. Ihr Körper wie Treibgut; noch wurde er nicht weggetragen.
    André sprang auf. Lief wieder im Kreis, wie am Abend zuvor, als er dem Tod davonlaufen wollte. War dies bereits geschehen, gestern Abend, oder geschah es erst heute? Aber gestern hatte Louise die Baumgrenze noch nicht erreicht. Oder doch?
    Hatte sie nicht gesagt, dass sie es gemütlich angehen, nur drei, vier Stunden wandern wolle? André war sich nicht sicher. Hatte sie es nicht vor dem Kamin im Ärger vor sich hin gesagt, weil sie diese Tortur nicht länger mitmachen wollte? Oder glaubte er sich an etwas zu erinnern, was nicht gewesen war?
    Es spielte keine Rolle. Dies war ein Hilferuf. Louise rief nach ihm! Er hatte sie noch nicht verloren, nein, sie war nicht von ihm weggegangen, hatte ihn nicht verlassen. Sie mussten sich gegenseitig helfen: Sie half ihm, indem sie ihn herunterrief; er rettete sie. Er würde sie just in dem Moment einholen, wenn sie mitten auf der Lichtung das Zelt aufzuspannen begänne.
    » Lou, Liebste « , würde er sagen, » lass uns lieber im Wald schlafen. «

26 – Aufbruch
    Die Sonne strahlte in völliger Ruhe, als gingen Andrés Probleme sie nichts an. Dass er Louise gesehen hatte, beschäftigte ihn. Befand sie sich in großer Gefahr, oder war alles nur ein Irrtum?
    Er musste hinunter, hinunter
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