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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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davon aus, denn Knie und Ellbogen schmerzten irdisch, und die zerschnittenen Finger ließen sich kaum bewegen. War es zu früh oder durfte er glauben, das Gewitter überstanden, sich erfolgreich vor dem Blitz versteckt zu haben? Hatte er diesen Überlebenskampf gewonnen? Nein, er hatte sich von dem Donner nicht verschrecken lassen, war nicht in Panik ausgebrochen, war souverän geblieben! Der Wille bahnte nicht nur Wege, er hielt auch den Verstand beisammen.
    Er, André, war ungeschlagen, blieb ein ewiger Sieger, und auch Blitz und Donner, dieses harmonische Paar, ließen ihn in Ruhe. Wie konnte ein Meister so einsam sein? Ging man weiter als andere, war man allein. Weshalb hatte er das nicht früher bedacht? Der Deutsche in der Berghütte war ein netter Typ, einer, der mit allen gut konnte, ein harmloser Mensch– diese Tortur hätte er niemals mitgemacht. Und die Gruppe, die in der anderen Ecke gesessen und Wein, wenn auch nur wenig, getrunken hatte, in welche Richtung war sie am nächsten Tag weitergegangen? Vielleicht bestiegen die Leute diesen Gipfel, waren die Rettung! Aber nein, bestimmt waren sie in gemütlichen vier, fünf Stunden zu einer anderen Berghütte gewandert, wo sie abermals gut essen und einen Schluck Wein trinken konnten. Ihr Wunsch nach Erholung verhinderte, dass sie in diese Höhen gelangten.
    Nur er, er lag auf seinem Olymp, zugedeckt von der Nacht. Ihm fiel ein, dass er nicht einschlafen durfte.

24 – Warten auf das Morgengrauen
    Nach dem Gewitter war die Temperatur gefallen, beinahe so schnell, wie man von einem Berg herunterfiel. Was hatte er noch vor Kurzem gedacht? Dass der Schnee schmolz? Unsinn. Was am Nachmittag wässrig geworden war, gefror nun zu Eis; die Temperatur lag tief unter dem Gefrierpunkt.
    Zuerst hatte André, der bäuchlings im Schnee lag, vor Angst, dass doch noch ein Blitz herunterzucken könnte, sich unmerklich zur Seite gedreht und wie ein Hund zusammengerollt, damit sein Körper einen geschlossenen Kreis bildete, aus dem weniger Wärme entwich, als wenn er ausgestreckt liegenblieb. In dieser Embryostellung kam ihm nach einigen Minuten, als das Gewitter fortgezogen war, die Idee, sich ein kleines Iglu zu bauen, indem er sich halb in den Schnee eingrub, halb ein Dach baute.
    Diese Höhle war, wenn auch kalt, nicht schlecht, bot sie doch Schutz vor der Nacht. Er zog die Ärmel über die Hände, drückte diese an die Brust, zog die Knie an, doch kaum lag er still, schlich die Kälte in ihn; die Zehen waren schon steif, die Ohren drohten abzufallen, der Rücken eine einzige kalte Fläche. Nein, so ging es nicht.
    Ärgerlich war, dass er unter der Jacke noch immer das nass geschwitzte T-Shirt trug, er es vor dem Klettern nicht gegen ein trockenes getauscht hatte. Das hätte er machen sollen. Wenn er den Rucksack nicht mit hochnehmen konnte, wenigstens trockene, warme Kleider anziehen! An alles Mögliche hatte er gedacht, an das unnütze Taschenmesser, nur daran nicht– er ärgerte sich sehr! Das war unter seinem Niveau, unter seinem Können; beim T-Shirt hatte er versagt.
    Nun war es so. Sich zu ärgern brachte nichts, kostete nur wertvolle Energie. Für seine Überlegungen musste er vom Ist-Zustand ausgehen, allein dieser zählte, aber Überlegungen anzustellen war nicht leicht, die Kälte machte ihn schlottrig. Er krümmte die steifen Zehen, zuerst jene am rechten Fuß, dann die am linken. Er befürchtete, sie könnten ihm abfrieren.
    Vor allem durfte er nicht einschlafen. Wenn er einschliefe, erfröre er im Schlaf, ohne es zu merken. Gab es etwas Erniedrigenderes, Beschämenderes, als den eigenen Tod zu verschlafen?
    Dies fühlte sich nicht an wie Folter. Erfrieren war eine angenehme Art zu sterben, genau wie Verhungern, weil das Hungergefühl verschwand. Grausam hingegen waren das Verdursten, weil die Zunge aufquoll und man Qualen litt, und das Verbrennen. Aber gerade deswegen, weil der Tod, der sich ihm anbot, kein grausamer, sondern ein verlockend angenehmer war, empfand er ihn als hinterhältig, als eine Folter der ausgeklügelt fiesen Art.
    Folter. Eine spielerische Art der Folter kannte er von den Pfadfindern. Damals hatten die Leiter den Kindern, wenn sie nicht gehorchten, damit gedroht, sie zu pflöcken. Beim Pflöcken wurden vier Holzpflöcke in die Wiese eingeschlagen, sodass sie ein Viereck bildeten, und derjenige, der gepflöckt wurde, musste sich auf den Rücken dazwischen legen, Arme und Beine zu den Pflöcken gestreckt, an denen sie mit Seilen
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