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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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vor ihm, das vielleicht bis anhin steilste, und der Pfad wurde wieder ganz schmal, noch schmaler als vorhin. Nach oben war jetzt mehr Raum; die Regenwolken bewegten sich wie Platten oder Würfel aufeinander zu, voneinander weg, aufeinander zu. Scharfe Kanten, Löcher, jähe Risse kündeten von der Schroffheit des Gebirges, und der weiche, geschmeidige Nebel war Vergangenheit.
    Längst konnte André das reibende Geräusch von Louises Jacke nicht mehr hören. Er machte sich keine Sorgen; diese letzten Meter würde sie allein schaffen. Und er wollte nicht noch einmal warten, wollte gleich nach oben gehen, erst oben hatte er eine Pause verdient.
    Er kam ins Schnaufen, die Maschine, zu der er beim Wandern wurde, lief allmählich an, und er dachte an Louise, die sich seiner Meinung nach zu Recht einen neuen Namen gegeben hatte. Bei jedem Schritt stampfte er einen dieser hässlichen Vornamen, die es in Deutschland gab, in den Boden. Friederike, Ulrike, Frauke– Frauke! Die Deutschen waren Meister darin, ihren Töchtern hässliche Namen zu geben.
    Oben, genau da, wo der Pfad die große Ebene erreichte, wartete er, damit Louise ihn sogleich sähe; den Rucksack legte er auf einen flachen Felsen wenige Meter neben sich. Er stand einige Minuten, als er zwischen den Bäumen, mehrere Höhenmeter tiefer ihre blaue Regenjacke entdeckte, deren reibendes Geräusch er noch nicht hören konnte.
    Louise stieg langsam hoch, als wolle sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, und zehn Meter vor dem Ziel blieb sie stehen, atmete tief aus. Puh!
    Er sagte nichts, absichtlich, obwohl sie sich verhielt, als fiele sie direkt vor dem Ziel tot um. Zögerlich setzte sie sich wieder in Bewegung, kam näher und näher und schritt, ohne ihn zu beachten, an ihm vorbei, legte den Rucksack ab, auf den flachen Felsen neben den seinen.
    » Hier ist die große Ebene « , sagte er und wies mit der Hand in die Ferne, in ein finsteres Gemisch aus Regenwolken und einer ebenso dunklen, spärlich mit Gras bewachsenen Fläche, die in Richtung der Berge in der Unsichtbarkeit verschwand.

5 – Im Schutz der Wettertanne
    André beobachtete, wie die Regenwolken über die große Ebene herantrieben; früher oder später würde es regnen, womöglich in Strömen. Eine Wettertanne, die Schutz bot, stand neben einem mit Gras bewachsenen Felsen etwa hundert Meter entfernt. Sie war windschief und für ihren Astbestand zu niedrig, jedoch vital im Vergleich zu den anderen Tannen, die weiter weg an den Hängen, ein wenig oberhalb der Baumgrenze, krüppelhaft wuchsen.
    » Wollen wir essen? « , fragte er, und wie auf Befehl ging Louise zu dem flachen Felsen vor ihnen, auf dem die Rucksäcke lagen.
    Sie hatten Sandwiches mitgenommen, zwei mit Schinken, zwei mit Käse, für jeden ein hart gekochtes Ei und mehrere Äpfel; die Eier stammten vom Frühstücksbuffet des Hotels. In einer Thermosflasche war Kaffee.
    André hielt die Stelle aufgrund ihrer Exponiertheit nicht für geeignet und deutete an, dass man sich vielleicht unter die Wettertanne setzen könnte; Louise stöhnte auf, wollte sich lieber gleich hier hinsetzen.
    Schon bald wühlte sie in ihrem Rucksack und zog die Winterjacke heraus. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, strich ihre Haare– egal, wohin sie schauten– immer in dieselbe Richtung: zum Zickzack-Pfad, wo sie hergekommen waren, hinunter in das Tal, zurück zum Dorf mit dem Hotel.
    Eine Serviette wurde davongeweht. Louise, die gerade zu essen begonnen hatte, fluchte leise und unverständlich, packte das Alupapier, das wie ein Teller auf ihren Oberschenkeln lag, deponierte es auf Andrés Oberschenkeln und rannte der Serviette hinterher.
    » Hier kann man nicht essen « , sagte sie, als sie zurückkam und den Wind frontal im Gesicht hatte.
    André zeigte auf die Wettertanne und schlug erneut vor, unter ihr Schutz zu suchen. Doch Louise hatte keine Lust, die ausgepackten Sachen so weit zu tragen. Sie wollte hinter einem Felsen essen, der wenige Meter von ihnen entfernt lag und den er auch bemerkt hatte, der jedoch zu rund war, um auf ihm zu picknicken.
    Aber Louise wollte sich nicht auf ihm, sondern neben ihm niederlassen. Wie André vermutet hatte, war der Boden feucht; sie zogen ihre Regenjacken am Gesäß so weit herunter wie möglich und versuchten, sich daraufzusetzen. Der Fels war nicht eben groß; sie mussten eng zusammenrutschen, um beide vor dem Wind geschützt zu sein.
    Er bemerkte, dass Louise bei jedem Windstoß zitterte und mit säuerlicher Miene vor
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