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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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standen und nur mit den Ästen wippten, ansonsten dem Wetter trotzten, wie sie es ihr Leben lang getan hatten. Sie waren bis jetzt nicht eingegangen, eine Leistung, die André achtete, aber ihr deformiertes Zwergendasein zeigte die Folgen dieses jahrzehntelangen Kampfes, und irgendwann, zu früh, würden sie verenden. Hätte man eine gesunde, große Fichte aus dem Flachland neben sie gestellt, wären die Zustände der verkrüppelten Tännchen erst richtig deutlich geworden.
    Stoßweise, mit den Windböen schlug der Regen André und Louise entgegen. Er fitzte, sagten die Schweizer; ein Schmerz wie von einer Rute. Und sie kämpften sich mit der Last ihrer Rucksäcke genau in diese Richtung vor, bekamen frontal alles ab, konnten nur, um sich zu schützen, zu Boden blicken.
    Dabei wäre die große Ebene bei schönem Wetter gefällig, geradezu gemütlich gewesen. Der Weg unterschied sich– erdig, steinig, mit Gräsern– nur unwesentlich von der kargen Alpwiese, passte geradezu harmonisch in das Tal. Abgesehen von wenigen leichten Kurven ging er geradeaus, stieg manchmal für einige Meter an und fiel nach der hügelartigen Erhöhung wieder ab. Vielleicht hätten bei schönem Wetter auf der Wiese, nicht weit entfernt, Kühe geweidet.
    Bei schönem Wetter hätten die Berge heruntergeblickt wie gutmütige Riesen, im Schatten kleine Schneefelder weiß geleuchtet wie Augen. Und zwischen den Köpfen der versammelten Riesen, die sich über das ameisenhafte menschliche Treiben in der großen Ebene beugten, der tiefblaue Himmel mit einem blendenden, gelben Fleck, der Sonne.
    Mit solchen poetischen Worten hatte André, im Winter noch, Louise diese Passage beschrieben, ihr später auch Bilder aus dem Internet gezeigt, als Beweis. Aber die Sonne hatten sie seit Beginn der Wanderung kein einziges Mal gesehen, nicht einmal ein Strahl oder wenigstens ein leicht durch die Wolken hindurch schimmerndes Gelb.
    Ein rascher Blick nach hinten bestätigte André, dass Louise tatsächlich langsamer geworden, die Distanz zwischen ihnen gleich geblieben war. Sie wollte nicht aufholen! Er beschloss, dieses Verhalten ad absurdum zu führen, indem er das Tempo weiter drosselte. Er schlich in Schneckengeschwindigkeit, als hätte er Kreislaufprobleme und bräche gleich zusammen.
    Es kostete ihn Kraft, so langsam wie ein Greis zu gehen. Aber er wollte herausfinden, was Louise tat, ob sie ihr Spiel aufgab oder es weiterführte, was lächerlich gewesen wäre.
    Bei dieser die Konzentration fordernden Anstrengung entging ihm beinahe, dass der Regen nachgelassen hatte. Noch fielen Tropfen, aber er glaubte, dass es sich dabei um ein Auströpfeln des Regens handelte; bald fiele nichts mehr vom Himmel.
    Kalt war es geworden. Längst hatte er die Ärmel der Regenjacke über die Hände gezogen. Er hoffte, dass es nicht zu schneien anfing– viel fehlte dazu nicht. Weiter oben, in den Höhen, die sie morgen erreichten, lag vielleicht Schnee, eine Vermutung, die ihn beunruhigte. Bei der Planung der Wanderung in Berlin, selbst noch hier, am Morgen im Hotel, war er davon ausgegangen, dass sie in höheren Lagen lediglich zwei-drei Schneefelder passieren mussten, kleine Felder, die das ganze Jahr über liegen blieben, auch im Hochsommer, und in die sie nicht weiter als bis zu den Knöcheln einsanken.
    Doch falls es oben so heftig geschneit hatte wie unten Regen gefallen war, lag jetzt viel Schnee, und sie bräuchten Schneeschuhe, um nicht bei jedem Schritt bis zum Knie oder, schlimmer noch, bis zur Hüfte einzusinken. An diese Möglichkeit und die Konsequenzen, daran wollte André lieber nicht denken. Sie machten seine Laune, die wegen Louise nicht die beste war, noch schlechter. Seine Zeitberechnungen würde er neu machen müssen: statt vier bis fünf Kilometer pro Stunde würden sie nur noch zwei schaffen. Und das hieße: Abbruch der geplanten Wanderung und eine kürzere Route bestimmen.
    Das durfte nicht sein. Er wollte hoch, ganz hinauf. Und Louise musste mitkommen.
    Seit Wochen freute er sich auf die Kletterstrecke unter dem Gipfel, für die sie das Seil, mit dem sie sich gegenseitig sichern wollten, mitgenommen hatten. An der Außenseite seines Rucksacks befestigt, war es nass geworden; in der Hütte würde er es locker aufhängen, sodass es bis zum nächsten Tag wenigstens ansatzweise trocknete.
    Louise und er gingen seit einem knappen halben Jahr in einer Halle klettern. Über Neujahr hatten sie den Toprope-Kurs gemacht, danach waren sie zweimal in der Woche
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