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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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Wetter oder in der Nacht dieselbe.
    Langsam, dann schneller rieb er die Hände aneinander, tat kreisende Bewegungen mit der Hüfte, sprang dreimal hoch in die Luft. Ein wenig war ihm kalt geworden, und er wollte sich bereit machen zum Weiterwandern.
    Louise hatte ihr Sandwich noch immer nicht aufgegessen.
    » Was ist mit deinem Brötchen? « , fragte er. » Du solltest es essen, sonst fehlt dir später die Kraft. In den Bergen, wo man starke Steigungen hat, darf man das nicht unterschätzen. «
    Sie schaute starr in den Regen hinaus, wie vorhin.
    » Jetzt ist der Weg doch eben « , sagte sie. » Ich esse es dann in der Hütte. «
    André, der sich Sorgen machte, gab zu bedenken, dass sie noch dreieinhalb, wenn nicht vier Stunden unterwegs sein würden, schweres Gepäck zu tragen hätten und der Weg auf der großen Ebene zwar nur leicht, aber stetig ansteige. Außerdem verbrauche man bei diesem Wetter mehr Energie als sonst.
    » Na und « , sagte Louise. » Wir können dann wieder pausieren. «

6 – Die Sturm-Ebene
    Wer nicht hören will, muss fühlen, sagte André im Stillen zu sich selbst.
    Er dachte an jenen Hike zurück, als er mit elf Jahren lernte, was » endloses Wandern mit schwerem Gepäck « bedeutete; er hatte den Fehler gemacht, nicht auf seinen Pfadfinderleiter zu hören, hatte den Rucksack nicht richtig gepackt. Viel zu viele Dinge hatte er mitgenommen, und diese Last wog so schwer, dass er bereits am Anfang des ersten Tages bei der ersten richtigen Steigung zurückfiel und zu kämpfen hatte. Wie demütigend war es gewesen, dass er, ein flotter kleiner Wanderer, in dieser Gruppe einer der Jüngsten, der sonst immer vorne mitlief, regelrecht » durchgereicht « wurde und schließlich als Letzter zwanzig Meter hinterhertrottete.
    Bald hatte er sich mit den Kräften am Ende gefühlt. Doch am späten Nachmittag ließen auch die Kräfte der anderen nach, und er konnte wieder mithalten. Und am nächsten Tag, als die anderen jammerten und die Wandergruppe eine immer weiter auseinandergezogene Schlange bildete– da trumpfte er erst richtig auf! Diese Notreserve an Energie, die er bereits am Tag zuvor hatte anzapfen müssen, dieser Wille, es unbedingt zu schaffen, ermöglichten eine ungeheure Leistung. Stramm, zäh schritt er voran, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, die Daumen in den Schlaufen der Schultergurte, um die Schultern zu entlasten, die schmerzhafte, wunde Stelle im Kreuz, wo der Rucksack scheuerte, ignorierend– eine Maschine, die Bewegungen ausführte, ohne zu ermüden.
    Nun überholte er nach und nach die anderen, gelangte zu dem vordersten Grüppchen, das einige Meter vor dem Pfadfinderleiter lief, überholte auch jenes und schritt, ganz in seinem Trott, voraus, steigerte das Tempo stetig, was sich von alleine ergab, bis er vom Leiter zurückgepfiffen wurde: er dürfe nicht zu schnell gehen, sonst falle die Gruppe auseinander, verliere man sich. Er spuckte zu Boden und schaute triumphierend zurück; die trugen doch alle nur das halbe Gepäck!
    Ohne es zu bemerken, war André bei dieser Erinnerung schneller geworden. Ja, wenn Louise nicht hören wollte, so musste sie fühlen. Wie er damals.
    Schon lief sie wieder dreißig Meter hinter ihm. Merkte sie nun, dass sie hätte essen sollen? Oder fehlte bei ihr, wie er vermutete, jeder Ehrgeiz? Er wollte sie nicht weiter zurückfallen lassen, nicht bei ihrem Gemütszustand. Er ahnte: sonst war die ganze Unternehmung in Gefahr.
    Also mäßigte er sich und ging langsamer, trotz seines Ärgers. Obwohl er Louise am liebsten hier hätte stehen lassen und ihm so langsam gehend beinahe kalt wurde, versuchte er zu schlendern, zu trödeln, öfter nach links und rechts in Natur und Wetter hinauszublicken. Dabei wollte er eigentlich möglichst schnell in der Hütte sein. Sie mussten, was nass geworden war, trocknen. Außerdem konnten sie sich länger erholen, wenn sie noch einen Teil des Nachmittags oder wenigstens des frühen Abends in der warmen Hütte verbrachten. Das Wetter fraß ihnen sonst die Energie weg, sie hatten anstrengende Tage vor sich.
    André glaubte zu bemerken, dass Louise auch langsamer geworden war, den Abstand zu ihm hielt.
    Inzwischen klatschten die Tropfen nicht mehr groß und wuchtig herunter; der Fisselregen schmetterte seine kleinen Geschosse scharf gegen Hände und Gesicht, das André schützte, indem er zu Boden blickte. Er versuchte es den alten Zwergtannen gleichzutun, die vereinzelt oder in kleinen Grüppchen auf der Ebene
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