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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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abtötenden Kiesweg, der sich immer gleich s-förmig dem Berg entlangschlängelte, kommentierte er seither lakonisch mit » Das formt den Charakter! « .
    Die zähen Abenteuer als Jugendlicher, die er alle bestanden hatte, führten zu einem Selbstbild, zu einer Einstellung, die er noch heute besaß: Kein Wanderweg der Welt konnte ihn, André, besiegen! Wenn es sein musste, wurde er zu einer Maschine; nicht wegen seiner Kraft, die mittelmäßig war, vielmehr wegen seines Willens. Heute noch mehr als früher– ein einmal herangebildeter Wille blieb bis ins hohe Alter, die Körperkraft hingegen ließ nach, wenn das Training fehlte, was bei ihm der Fall war. Die Seenwanderungen in den vergangenen Monaten konnten für Louise als Training bezeichnet werden, für ihn gaben sie gemütliche Sonntagsspaziergänge ab.
    Und dennoch war er nicht schlecht in Form, besaß einen für lange Wanderungen geeigneten Körper: für einen Mann nicht sehr groß, aber sportlich, weder zu kräftig noch zu dünn, ein gutes Verhältnis zwischen Muskelkraft und Gewicht. Louise war genau gleich groß wie er, für eine Frau eher hochgewachsen, und sehr schlank, von beinahe maskuliner Gestalt. Auch sie besaß einen guten Körper zum Wandern.
    Nichts stand einem prägenden Abenteuer im Weg.
    Und André hätte den Gipfel stürmen können. Als hätte sich die Energie von zehn oder fünfzehn Jahren angestaut, seit er als junger Mann zum letzten Mal auf einer richtigen Wanderung gewesen war. Er machte Tempo. Der Zickzack-Pfad gefiel ihm, und er wollte Louise zeigen, wie spielend man hinaufgelangte– mit dem nötigen Elan.
    Sie schritt bedächtig hinter ihm her, mehrere Schleifen unter ihm, wie er vermutete, im Nebel konnte er sie nicht sehen. Er schätzte, dass sie vielleicht in fünf oder zehn Metern Höhendifferenz zu ihm wanderte. Größer durfte der Abstand nicht werden; er fühlte sich verpflichtet, auf seine Freundin aufzupassen.
    Vergnügt blieb er stehen, wischte sich das Wasser aus den Augenbrauen und jodelte hinunter in das nasse und tröpfelnde Grau.
    » Lou « , rief er, » huhuu! «
    Einen Moment lang blieb es still.
    » Ja? « , fragte ihre Stimme.
    » Hier oben ist blauer Himmel « , rief er, ohne viel dabei zu überlegen.
    Er hörte das reibende Geräusch ihrer Goretex-Jacke; Louise hatte sich wieder in Bewegung gesetzt.

4 – Durch das Nebelmeer
    Wenige Meter von ihm entfernt, als er sie sehen konnte, verlangsamte sie das Tempo. Zaghaft näherte sie sich, ohne ihn anzusehen, jetzt mit verschränkten Armen, die Hände zwischen Oberarme und Körper gesteckt. So wanderte es sich nicht gut.
    » Und « , sagte sie, halb zu Boden, halb zum Hang blickend, der hinter dem Nebel verborgen lag, » wo ist der blaue Himmel? «
    » Grauer Himmel « , witzelte er, » ich sagte, grauer Himmel. «
    Louises Gesicht zeigte keinerlei Reaktion, geschweige denn ein Lächeln.
    » Ach, sei kein Frosch! Ich wollte dir die letzten Meter erleichtern. «
    Sie schwieg, schaute noch immer in das nieselnde Dunkelgrau. In ihrer völligen Bewegungslosigkeit glich sie einer Statue oder einem Felsen.
    Es sei doch von vornherein klar gewesen, argumentierte er, dass nicht die Sonne scheinen könne– bei dem Nieselregen! Von irgendwoher müsse der Regen schließlich kommen; nicht von dem Nebel hier, sondern von einer Wolke weiter oben.
    » Dann bin ich halt hereingefallen « , sagte Louise verärgert.
    Sie schien den Wind nicht zu bemerken, der von oben herunterwehte, in kräftigen, ruppigen Stößen; ein heftiger Luftzug noch, der sich aber schnell zu einem Sturm entwickeln konnte. André schaute seine Freundin an, die noch immer in den Nebel hineinblickte.
    » Ich wollte dich nicht hereinlegen « , verteidigte er sich, » ich dachte, das mit der Wolke sei klar. Ich wollte das schlechte Wetter mit Humor nehmen. «
    Louise rührte sich nicht, schaute ihn nicht an. Nachdem er einige Sekunden gewartet hatte, drehte er sich von ihr weg, hangabwärts, und blickte in das riesige Nebelmeer, durch das sie gewandert waren und in dem sie sich noch immer befanden– als wolle er so nicht weitergehen, sondern umkehren, wieder hinabtauchen zu dem Dorf, in dem sie übernachtet hatten.
    Voneinander abgewandt blieben sie eine Weile stehen und schwiegen vor sich hin. André konnte beobachten, wie der Wind den Nebel hinunterdrückte, wie einzelne dunkle und helle Nebelschwaden in Richtung Tal trieben. Aber oben, da begann das Grau nicht, sich aufzulösen, wurde nicht weiß, wurde nicht,
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