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Niedergang

Niedergang

Titel: Niedergang
Autoren: Roman Graf
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sei es traumhaft, sie werde schon sehen, und ein bisschen Nebel und Regen gehöre dazu, das mache den Reiz des Abenteuers aus.
    André wusste nicht mehr, wo er den Satz mit dem Gefängnis gelesen hatte, aber er gefiel ihm. Er hatte dieses Bonmot schon mehrmals in eine Runde geworfen, wenn sich eine Gelegenheit bot.
    Die Rinnen im Weg, die sich wie wilde Flussarme teilten und wieder vereinten, bildeten eine archaische und doch vielleicht gesetzmäßige Struktur. André war erstaunt über die Tiefe der Rinnen, die man als kleine Canyons bezeichnen konnte, enge Täler in einer Spielzeuglandschaft. Die eine oder andere führte so viel Wasser, dass hineingesetzte kleine Papierschiffchen in hoher Geschwindigkeit hinuntergesaust wären, nervös schaukelnd, sich drehend, bald kenternd.
    Zum Glück lud das Plateau nicht zu einer Pause ein. Wasser, das den Hang herunterlief und sich hier sammelte, hatte den Boden durchnässt und aufgeweicht, ein wenig sank André gar mit dem Wanderschuh ein; nicht schlimm, der Schuh reichte weit über den Knöchel und war aus wasserdichtem Goretex.
    Von unten näherte sich ein blauer Farbtupf, Louises Jacke, die sich zwischen den dünnen Stämmchen junger Bäume und dem festsitzenden Nebel immer deutlicher abzeichnete.

3 – Auf dem Zickzack-Pfad
    Aus Louises Ankunft auf dem Plateau war doch eine kurze Pause geworden. Louise wollte trinken. Dabei hätte sie nur den Mund öffnen und sich hineinregnen lassen müssen.
    Der Zickzack-Pfad war ganz nach Andrés Geschmack. Hier, oberhalb des kleinen Plateaus, erhob der Berg sich so steil, dass ein gerader Weg wie vorhin undenkbar gewesen wäre. Auf allen vieren hätte man diesen lehmigen, glitschigen Hang hinaufklettern und sich an den Tannenästen festhalten müssen, um nicht wieder herunterzurutschen. Selbst der schmale Zickzack-Pfad war steil, anstrengend für Louise. Bei André führte die Steigung, zusammen mit dem Gewicht des Rucksacks, lediglich dazu, dass er den Unterschied zu den Seenwanderungen zu fühlen begann, er seine überschüssige Energie, die Kraft in den Beinen einsetzen konnte. Steigung, Last, Energieaufwand, Puls und Atem, langsam gelangte alles in eine Balance, er kam in seinen Trott.
    Auf dem Pfad gab es nur noch kleine Rinnen, wenn überhaupt, und die Kiesel lagen nicht obenauf, sondern waren fest in den Boden getreten. Ab und an, vor allem bei den Kurven, wo der Pfad jeweils steiler wurde, zwangen Stufen sie dazu, konzentriert zu gehen, sonst wären sie gestolpert. Manche waren kniehoch, sodass sie Kraft kosteten– Kraft, von der André einen schier unerschöpflichen Vorrat zu haben schien.
    Jetzt machten sie Höhenmeter. Und das war notwendig, um möglichst bald aus dem Wald herauszukommen, die Baumgrenze unter sich zu lassen. Solange sie sich im Wald befanden, konnte von einer richtigen Bergwanderung nicht die Rede sein. Nicht, wenn man André fragte.
    Auf dem Weg floss ihm eine dünne Schicht Wasser entgegen, das sich an der Spitze seiner Schuhe teilte und manchmal hochschwappte oder -spritzte ; er freute sich darüber: in diesem Bächlein zu gehen gehörte zum Abenteuer. Es war gut, dass ihnen zu Beginn einiges zuwiderlief; schönes Wetter, eine von Louise so noch nie erlebte Aussicht, eine Rast auf einer Alpwiese mit anschließendem kurzen Mittagsschlaf mussten danach umso stärker wirken.
    Einen kurzen und heftigen, geradezu jugendlichen Regenschauer nahm André hin– wie nichts. Das herunterklatschende Nass spornte ihn zusätzlich an, er kam langsam in Stimmung und schritt mit einem Übermut voraus, der Louise anstecken musste. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich den Regen aus dem Gesicht zu wischen; im Gegenteil: einen Tropfen an der Nasenspitze ließ er absichtlich hängen, so sehr freute er sich über das endlich beginnende Abenteuer. Wie früher! Bei den Pfadfindern hatten sie in den Bergen mehrtägige Gewaltmärsche unternommen, sogenannte Hikes; bereits als Elfjähriger durfte er die Erfahrung machen, was » endloses Wandern mit schwerem Gepäck « bedeutete, durfte durch das Glück, sich verlaufen zu haben, miterleben, wie man sich nach Stunden an der prallen Hochsommersonne die letzten Schlucke Wasser teilte und die staubtrockenen Biskuits der Schweizer Armee herunterwürgte, bevor es in Richtung Zivilisation weiterging. Seit dieser Erfahrung wusste er, dass er Ausdauer besaß und sein Wille nicht zu brechen war. Stundenlange Strecken in karg-felsigem, eintönigem Gebiet, auf einem die Fantasie
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