Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus
Autoren: Blake Charlton
Vom Netzwerk:
und verwandelten dabei die unteren Ebenen in ein Labyrinth sich überlappender Schatten.
    Arrogant wie die Zauberer waren, sahen sie in Starhaven nichts weiter als eine ihrer »Akademien«. In Wahrheit jedoch war dieser Ort eine antike Stadt, die von den Chthonen errichtet worden war, lange bevor überhaupt ein Mensch einen Fuß auf diesen Erdteil gesetzt hatte. Auch wenn die Zauberer das gesamte Starhaven für sich in Anspruch nahmen, bewohnten sie tatsächlich nur das im äußersten Westen gelegene Drittel.
    Der Weg führte das Wesen fort von dem bewohnten Teil der Stadt. Hier standen dunkle Türme und verfallene Kathedralen, und die kopfsteingeflasterten Gassen waren mit Unkraut übersät.
    Erst als der verlassene Turm von den schweren Schritten der Beschützer widerhallte, raste es die Wendeltreppe hinauf und floh über den Wehrgang nach Norden.
    Sobald es sicher war, die Beschützer weit hinter sich zurückgelassen zu haben, bog es nach Westen ab. Jeder seiner blutdürstigen Gedanken galt dabei der Jagd nach dem jungen Kakographen.
     
    Nicodemus drückte die Klinke mit dem Ellenbogen hinunter und stieß mit dem Rücken die Tür auf. Dann trat er rücklings in Magister Shannons Studierzimmer und ließ sich auf die Seite fallen.
    In den Armen hielt er einen zu einem Knäuel doppelt verschnürtenWandteppich. Etwas darin wand sich unentwegt und plapperte mit gedämpfter Stimme: »Korpulent, Sakrament, inkorporal. Ha! Inkorporales Saaaaakrament!«
    Nicodemus fing an zu beten: »Celeste, himmlische Göttin, bitte mach’, dass sie die Klappe hält. Ich zünde auch jeden Abend eine Kerze für dich an, wenn du sie nur zum Schweigen bringst.«
    Unbeeindruckt hielt sich Celeste aus der ganzen Sache heraus.
    »Empathie, Apathie, Sympathie, haha!«, frohlockte das Teppichbündel.
    »Zwei Kerzen?«, offerierte Nicodemus dem unsichtbaren Himmel.
    »Euphonie, Kakophonie, hahah! Kalligraphie, Kakographie, hihi!«
    Stöhnend erhob sich Nicodemus. Im Zimmer brannte kein Licht, doch durch die offenen Bogenfenster schienen der weiße und der blaue Mond herein. Eichenregale säumten die Wände des länglichen Raums. An der Stirnseite stand ein mächtiger Schreibtisch und in der Mitte drängten sich mehrere Stühle.
    Nicodemus trat aufs nächstgelegene Regal zu und zog einen dicken Wälzer über die Heilung und Pflege von Wasserspeiern heraus. Auf Seite zehn fand er den gesuchten Zauberspruch. Er legte das aufgeschlagene Buch auf den Schreibtisch, schlüpfte aus seinen Ärmeln und formte einen kurzen Numinuszauber. Er bog die goldenen Worte zu einem Haken, tauchte ihn in die Buchseite und angelte ein Knäuel aus Numinusabsätzen heraus, das sich zu einem rechteckigen Kristallgitter anordnete. Vorsichtig, um den Text nicht zu berühren, schlich Nicodemus zu dem sich windenden Bündel zurück und zerschnitt die Schnüre mit einem scharfen Wort.
    Die Wasserspeierin begrüßte ihre wiedergewonnene Freiheit mit einem Freudenschrei.
    Sogleich zog ihr Nicodemus eins mit dem Numinusgitter über. Der Kristallzauber legte sich um ihren Geist und ließ sie in einer ungewöhnlichen Pose verharren: halbkniend, die Hände gen Himmel gestreckt. Langsam kippte sie vornüber.
    Aus dem Stegreif und unter Verwünschungen zauberte Nicodemus einen Magnussatz hervor, um sie aufzufangen. Mit ein paar weiteren Sätzen richtete er sie auf und lehnte sie gegen ein Regal.
    Offenbar hatte keiner gesehen, wie er die Wasserspeierin mit einem Wandteppich über den Hof gejagt hatte. Dafür dankte er dem Schöpfer.
    Dann besah er sie sich und flüsterte sanft und mitfühlend: »Du dummes Ding. Was habe ich bloß mit dir angestellt?«
    »Du hast einen Kurzschluss in ihrem Numinus-Cortex verursacht«, grollte es.
    Nicodemus gefror das Blut in den Adern. »Magister«, murmelte er, als sich eine Gestalt aus der dunklen Ecke löste.
    In einen Strahl blauen Mondlichts trat der Zaubermeister Agwu Shannon. Weiße Filzlocken, ein kurzer Vollbart und ein gelbbrauner Teint kamen zum Vorschein. Shannon hatte eine große Hakennase und die schmalen Lippen waren missbilligend aufeinandergepresst.
    Dennoch waren es die Augen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie hatten weder Iris noch Pupille, sondern waren vollständig weiß. Diese Augen waren blind für die alltägliche Welt, aber außerordentlich scharfsichtig für magische Texte.
    Nicodemus’ Stimme überschlug sich fast: »Magister, ich habe nicht damit gerechnet, dass Ihr um diese Zeit noch arbeitet. Ich wollte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher