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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus
Autoren: Blake Charlton
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ihnen.«
    Erneutes Schweigen. »Eine Grammatikerin vertut sich nicht mit den Pronomina. Reden wir also von ›ihm‹.«
    »Ihr habt Euch verhört. Ich …« Das Wesen hob den Zauber auf, der ihren Kopf hochgehalten hatte. Sie brach zusammen. »In den Träumen war es ganz anders«, murmelte sie aufs Kopfsteinpflaster.
    Das Wesen knurrte. »Es war anders, weil ich es war, der Euch diese Träume gesandt hat. Eure Schüler werden das Gleiche erhalten: die Vision eines Sonnenuntergangs, von einer hohen Brücke aus betrachtet, und Träume von einem Bergpanorama. Irgendwann wird sie die Neugier packen, und dann werden sie sich auf die Suche machen.«
    Nora stöhnte auf. Die Prophezeiung erfüllte sich. Wie hatte sie so blind sein können? Welchen bizarren Mächten hatte sie gedient?
    »Ihr glaubt vielleicht, dass die Metazauber von Starhaven Eure Schüler beschützen werden«, sagte das Wesen. »Doch da irrt Ihr Euch. Die Zauber verhindern möglicherweise, dass ich innerhalb Eurer Mauern Magie einsetze, aber ich brauche die Zöglinge bloß in den Wald oder auf eine der Brücken zu locken. Nun, da das Konzilbegonnen hat, wird mir das ein Leichtes sein. Wenn es sein muss, lasse ich Eure Schüler einen nach dem anderen über die Klinge springen. Ihr könntet ihnen das Leben retten, indem Ihr mir einen einzigen Namen nennt.«
    Sie regte sich nicht.
    »Sagt mir seinen Namen«, zischte die weiße Gestalt, »und ich gewähre Euch ein kurzes und schmerzloses Ende.«
    Nora sah kurz zum Brückengeländer hinüber. Eine Idee breitete sich in ihrem Geist aus wie ein Tintenfleck auf einem Blatt Papier. Es ließe sich machen, wenn sie nur schnell genug war.
    »Keine Antwort?« Das Wesen trat einen Schritt zurück. »Dann werdet Ihr eines langsamen Todes sterben.«
    Sie spürte, wie ein starker Puls durch den magischen Satz in ihrer Brust ging.
    »Ich habe Euch soeben mit einem Geschwulstzauber belegt. Er zwingt Euren Körper, missgestaltete Runen zu bilden. Bereits in diesem Augenblick entsteht in Euren Lungen das erste Geschwür. Bald schon wird es auf Eure Muskulatur übergreifen, ungewollt werdet Ihr gefährliche Textmengen produzieren. In einer Stunde wird Euer Körper von Krämpfen geschüttelt sein, Eure Schlagadern werden bluten und Eure Magenwände reißen.«
    Nora stützte sich mit den Handflächen auf das kalte Kopfsteinpflaster.
    »Der fähigste Eurer Kakographen jedoch wird einen solchen Fluch überleben«, höhnte das Wesen. »Daran werde ich ihn erkennen. Er wird den Geschwulstzauber überleben, während die anderen elendig daran zugrunde gehen werden. Ich erspare Euch diese Qualen, wenn Ihr mir nur …«
    Doch Nora wartete nicht mehr auf das Ende des Satzes. Lautlos stieß sie sich vom Boden ab und hechtete über das Geländer. Einen Moment lang fürchtete sie, ein Schwarm silbriger Sätze würde sich um ihre Knöchel schlingen, und sie wieder auf die Brücke zurückzerren.
    Doch die Wucht ihres Falls zerriss den goldenen Satz, der ihr die Brust durchbohrte … und damit war sie frei.
    Sie schloss die Augen und stellte fest, dass ihre Angst vor dem Tod auf wundersame Weise in weite Ferne gerückt war. Sie erschien ihr eher wie eine Erinnerung als wie eine Empfindung.
    Die Prophezeiung erfüllte sich. Dieses Wissen wurde nun mit ihr ausgelöscht, doch das war der Preis, den sie zu zahlen hatte: Durch ihren Tod blieb zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer erhalten.
    Beim Hinabstürzen schlug sie die Augen auf. Der Himmel leuchtete hochrot über dem dunklen Gebirgszug. Die untergehende Sonne ließ die Berggipfel rotgolden erstrahlen und tauchte die bewaldeten Hänge darunter in ein tiefes, hungriges Schwarz.

Kapitel 1
    Nicodemus wartete , bis sich die Bibliothek geleert hatte. Erst dann machte er den Vorschlag, einen schweren Verstoß zu begehen, der zu seinem Rausschmiss führen konnte.
    »Wenn ich dich jetzt bearbeite, können wir beide in einer Stunde schon tief und fest schlafen«, sagte er in einem bemüht beiläufigen Tonfall zu seinem Text.
    Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war Nicodemus Weal für einen Zauberschreiber jung, aber für einen Lehrling alt. Er war großgewachsen und hielt sich stets gerade. Sein rabenschwarzes langes Haar und sein olivbrauner Teint ließen seine grünen Augen umso mehr erstrahlen.
    Der Text, zu dem er gerade sprach, war ein ganz gewöhnlicher Bibliothekswasserspeier – sowohl ein Geschöpf als auch ein beseeltes Wesen aus Zauberworten. Und für Starhavener Verhältnisse war es ein
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