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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus
Autoren: Blake Charlton
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recht schlichter Zauber.
    Der Wasserspeier, der vor Nicodemus auf dem Tisch hockte, hatte die Gestalt eines ausgewachsenen Schneeaffenweibchens. Der schlanke steinerne Leib war mit Riffelungen überzogen, die das Fell darstellen sollten. Das Gesicht war unbehaart, mit dicken Backen und müde dreinblickenden Augen.
    Nur einen Zusatz hatte ihr Schöpfer ihr verpasst: einen kurzen Schwanz, aus dem drei hakenförmige Absätze silbriger Prosa ragten. Nicodemus sah zu, wie sie sich drei Bücher schnappte und mit den Schließen an diese Absätze hängte.
    »Du und mich bearbeiten? Wohl kaum«, erwiderte die Wasserspeierin und stieg langsam ein Regal hinauf. »Außerdem bin ich so geschrieben, dass ich vor dem Morgengrauen eh nicht einschlafen kann.«
    »Aber du hast doch sicher Besseres zu tun, als die ganze Nacht Bücher einzusortieren«, konterte Nicodemus und strich sich das schwarze Lehrlingsgewand glatt.
    »Kann schon sein«, räumte sie ein und hangelte sich seitwärts am Regal entlang.
    Nicodemus hievte einen dicken Wälzer empor. »Und du hast dich auch schon von Lehrlingen bearbeiten lassen.«
    »Nur ein oder zwei Mal«, brummte die Wasserspeierin und stieg zwei Regalböden höher. »Aber bestimmt noch nie von einem Kakographen.« Sie nahm eins der Bücher von ihrem Schwanz und schob es ins Regal. »Du bist doch ein Kakograph, oder? Du brauchst die magischen Texte nur zu berühren und schon strotzen sie vor Fehlern.« Mit zusammengekniffenen Steinaugen blickte sie sich zu ihm um.
    Nicodemus hatte damit gerechnet, dass sie das fragen würde; dennoch fühlte es sich an wie ein Schlag in die Magengrube. »Ja, das bin ich«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
    Die Wasserspeierin erklomm ein weiteres Regal. »Dann wäre es ein Verstoß gegen die Bibliotheksordnung: Geschöpfe dürfen sich nicht von Kakographen berühren lassen. Und außerdem könnten dich die Zauberer deswegen rausschmeißen.«
    Nicodemus atmete tief durch.
    Rings um sie her erstreckten sich Regalreihen voller Bücher und Schriftrollen. Nicodemus und die Wasserspeierin befanden sich im zehnten und zugleich obersten Geschoss der Bibliothek, bekannt auch als das Magazin – einem gedrungenem Bau, in dem viele der Starhavener Handschriften verwahrt wurden.
    Außer Nicodemus und der Wasserspeierin war nun niemand mehr im Gebäude. Durch die mit Papier verkleideten Fenster fiel ein wenig Mondschein herein; weiteres Licht spendeten die Flammenflugparagraphen, die über Nicodemus hin und her flitzten.
    Er trat näher an die Wasserspeierin heran. »Wir haben jetzt schon so lange Bücher einsortiert, dass du ganz langsam geworden bist. Alles, was du brauchst, sind ein paar anfeuernde Worte. Dazu müsste ich dich noch nicht einmal berühren. Die anderen Lehrlinge habenihre Geschöpfe schon alle überarbeitet, deshalb sind sie und ihre Wasserspeier schon seit Stunden fertig.«
    »Die anderen Lehrlinge sind ja auch keine Kakographen«, entgegnete die Wasserspeierin und stellte ein weiteres Buch zurück. »Müsst ihr Kakographen nicht immer so lange Magazindienst schieben?«
    Nicodemus verkniff sich einen finsteren Blick und legte seine Bücher zurück auf den Tisch. »Nein. Und normalerweise brauchen wir unsere Wasserspeier auch nicht aufzufrischen. Es liegt an diesem verdammten Konzil. Die Zauberer kramen jedes nur erdenkliche Manuskript hervor, um ihre Gäste zu beeindrucken.«
    Die Wasserspeierin beäugte den Stapel der noch einzusortierenden Bücher und verzog das Gesicht. »Also darum haben wir heute Abend viermal so viel zu tun wie sonst.«
    Nicodemus setzte eine bleierne Miene auf. »Es kommt noch schlimmer. Ich muss für morgen früh einen Anatomieaufsatz durchgehen und zwei Zaubersprüche üben.«
    Die Wasserspeierin lachte. »Du erwartest Mitgefühl von einem einfachen Geschöpf ? Ha! Du magst ja ein Kakograph sein, aber immerhin kannst du selbständig denken.«
    Nicodemus schloss die Augen; sie brannten ihm vor Müdigkeit. Es war nun schon eine halbe Stunde nach Mitternacht, und morgen früh müsste er beim ersten Glockenschlag wieder raus. »Wenn du mir jetzt erlaubst, deine verblassten Worte aufzufrischen, suche ich dir morgen eine Schriftrolle mit einem Modifikationszauber heraus. Dann kannst du dich nach Belieben verändern – Flügel, Klauen, was du willst.«
    Die Wortschöpfung kletterte wieder zum Tisch hinab. »Na toll, Flügel von einem Kakographen. Was soll das schon bringen, eine Schriftrolle von einem zurückgebliebenen …«
    »Jetzt mach
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