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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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hielt. Ein Marder, dachte sie. Oder ein Fuchs. Waren die Gänse und Enten im Stall? Hatte sie daran gedacht … Fast hätte sie aufgelacht: Das alte Pflichtgefühl war noch immer eingeschaltet. Dabei ging sie das alles nichts mehr an. Das war Renas Angelegenheit – und auf ihre Tochter konnte sie sich verlassen.
    Je länger sie nachdachte, desto größer wurde ihr Mitleid mit Lilly. Peter hatte gewußt, wo Lillys wunder Punkt war. Er mußte sie erbarmungslos gequält haben. Und die größtmögliche Kränkung war: Er hatte ihr eine Geschichte auf dem Tablett serviert – ach was: nicht eine Geschichte, die Story schlechthin. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er die Geschichte wie einen Köder vor ihrer Nase hatte baumeln lassen – und immer, wenn sie danach zu schnappen versuchte, zog er sie hohnlachend weg. Peter, der Sadist. Er mußte diese exquisite Situation ungeheuer genossen haben.
    Eine Frau wie Lilly E. Meier – immer auf der Suche nach dem menschlichen Drama … Hier hätte sie eine Geschichte aufschreiben können, die alles besaß, was eine Story zu einem Scoop macht: Vergangenheit, Krieg, Waffen, skrupellose Männer, verkommene Politiker, heldenhafte Aufklärer und einfache moralische Wahrheiten.
    Die eine Geschichte, die für sich sprach, ohne daß man beschönigen, manipulieren, die Wahrheit verdrehen mußte. Und ausgerechnet die hatte sie nicht aufschreiben können, ohne sich selbst zu gefährden. Nicht zu Lebzeiten Zettels. Und nach seinem Tod erst recht nicht.
    In Karen Starks Theorie war dafür kein Platz. »Eine solche Frau hätte sich ihre öffentliche Rolle nie nehmen lassen«, hatte sie vorhin gesagt – und da war fast so etwas wie Bewunderung in ihrer Stimme gewesen. »Und während Bunge sich entzog, hat sie gehandelt.« Anne war erstaunt gewesen über diesen Anfall feministischer Solidarität.
    »Du machst noch aus jedem Vorurteil eine Eingebung, Karen« – Pauls Tadel hatte sich milde angehört. Aber sie hätte ihn dafür küssen mögen.
    Anne glaubte nicht an das Klischee von der ehrgeizigen Frau, die über Leichen geht. Lillys Ehrgeiz war von anderer Art – sie kämpfte nicht nur für ein bißchen Ruhm und Ehre. Sie kämpfte, dachte Anne plötzlich, um ihr Leben, so, wie sie es wahrscheinlich immer hatte tun müssen. Dagegen, immer wieder übersehen, zur Seite geschoben zu werden. Anne sah das Gesicht Lillys vor sich, kurz bevor sie fiel. Wut hatte sie darin gesehen, richtig. Aber auch Trauer, Verletzung, Frustration – und die wilde Entschlossenheit eines Menschen, der sich nach oben gekämpft hat und sich nun von niemandem dort mehr vertreiben lassen will.
    Nein, Karen, dachte Anne, so simpel funktionieren Menschen nicht – noch nicht einmal Journalisten. Noch nicht einmal Politiker. Sie zog das karierte Flanellhemd enger um ihre Brust. Und auch nicht Alexander Bunge. Was hatte ihn wirklich in den Tod getrieben? Die Enthüllung einer Verfehlung, die ausnahmslos alle verächtlich finden würden. Die Angst, seine Kinder nie wieder zu sehen. Das alles und noch mehr: der Konflikt mit den eigenen Vorstellungen von politischem Anstand, in den ihn das Bündnis mit Peter Zettel zur Entsorgung der Vergangenheit gebracht hatte. Und vielleicht auch: Es hatte ihn einer verraten, dem er vertraute.
    Hatte er Peter Zettel geliebt?
    Wieder schrie das Käuzchen, ein Laut wie ein Schmerzensruf. Wie eine Klage um das, was unwiderruflich verloren ist. Peter, dachte Anne. Er war eine schillernde Schlange gewesen, schön anzusehen, aber unberechenbar und gefährlich. Er hatte gewußt, wie er auf andere wirkte und wie er sie quälen konnte. Vielleicht hatte auch Lilly ihn einmal geliebt, den schönen Verräter. Anne fröstelte. Es sind die Liebe und der Verrat an ihr, die am meisten schmerzen.
    Dann gab sie sich einen Ruck. Karen hatte das Wichtigste ausgelassen. Und das war auch besser so. Mit Karens Theorie war alles erklärt und zu den Akten gelegt. Zettel ein Erpresser, Lilly seine Mörderin – alles war einfach und klar. Überall leuchtete Gegenwart, von Vergangenheit, gar verhängnisvoller, keine Spur.
    Plötzlich wußte auch Anne nicht mehr, was Traum war und was Wirklichkeit. War sie jemals dort gewesen, unter der Erde, gejagt von Gespenstern? War sie jemals in der Dunkelheit vorwärtsgestolpert, gepeinigt von Atemnot und Angst, umgeben von Verwesungsgeruch? Hatte sie jemals Peter Zettels Leiche gesehen, den hingegossenen Leib eines schönen Verführers im Zustand der Auflösung?
    Und Jon
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