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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit
Autoren: Anne Chaplet
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sie in der Luft zerreißen. Gut, daß Lilly keinen Anwalt mehr brauchte.
    »Lilly wurde gesehen – am Samstag vor dem Mord hat sie ein Kollege in Peter Zettels Zimmer mit Hans Becker reden hören. Und am Sonntag abend, am Tag darauf, etwa um die vermutete Tatzeit, ist sie beobachtet worden, wie sie das Redaktionsgebäude betrat.«
    Kosinski wiegte wieder den Kopf. »Hat jemand den Schuß gehört?«
    »Nein. Auf dem Gendarmenmarkt tobte ein Volksfest – mit lauter Musik und allgemeiner Belustigung. Es ist ein Wunder, daß Lilly überhaupt gesehen und auch noch erkannt worden ist.«
    Anne schaute aus dem Fenster, Bremer kaute auf seiner Unterlippe, Kosinski lehnte sich mit unbewegtem Gesicht in seinen Stuhl, und der Setter stupste ihr die feuchte Nase gegen die Hand. Automatisch begann sie wieder, ihn hinter dem Ohr zu kraulen.
    »Ich war mir bis zum Schluß nicht sicher. Bis zu dem Moment, an dem ich die beiden auf dem Reichstag habe stehen sehen …«
    »Es hätte ja auch ich gewesen sein können, die Lilly hinuntergestoßen hat.« Anne Burau klang, als ob sie sich um Fassung bemühte.
    »In der Tat. Und ohne mich hätten das auch andere geglaubt.« Karen merkte, daß sich ein gewisser professioneller Stolz in ihre Stimme eingeschlichen hatte.
    »Alle Zeugen haben etwas Unterschiedliches ausgesagt. Aber ich habe alles sehr deutlich gesehen – vor allem Lillys Gesicht in dem Moment, in dem Sie die Hände ausstreckten. Diese Mischung aus Haß und Triumph …« Karen schüttelte sich.
    »Aber – warum …? Nur, weil sie ein paar Geschichten nicht wahrheitsgemäß aufgeschrieben, sondern gut erfunden hat?« Kosinski fragte wieder, ruhig, insistierend, und Karen merkte, daß er sie plötzlich irritierte. Sie wischte das Gefühl hinweg. Sie wußte , daß sie recht hatte.
    »Lilly E. Meier war eine sehr ehrgeizige und sehr erfolgreiche Frau. Sie hatte mehr Macht, als man ihr auf den ersten Blick zutraute: Sie saß in diesem Komitee, in jenem Gremium, in all den informellen Zirkeln, die in der Berliner Gesellschaft Bedeutung haben. Sie wurde gehört, sie engagierte sich für die richtigen Zwecke – sie war eine Stütze der Gesellschaft. Wenn herausgekommen wäre, daß die Geschichten, die sie berühmt gemacht hatten, vielleicht nicht völlig erstunken und erlogen, aber weitgehend nachempfunden, manipuliert oder konstruiert gewesen waren – dann hätte man sie verjagt.«
    Karen dachte an Sonnemann, der aufgelacht hatte bei der Frage, warum man in Sachen Bunge keine Richtigstellung abdrucken wollte. Eingeständnisse solcher Art waren nicht gut fürs Geschäft.
    »Weil unsere Presse die Wahrheit liebt?« Paul hatte die Augenbrauen spöttisch hochgezogen.
    »Nein – weil man sich beim Verfälschen derselben nicht erwischen lassen darf.«
    Sonnemann war die Zeitung wichtiger als der Ruf Bunges oder die persönliche Existenz Lillys. Sie hätte nie wieder eine einzige Zeile bei ihm veröffentlichen dürfen – und auch bei der Konkurrenz wäre sie wie eine Aussätzige behandelt worden. Vielleicht hätte man sie nach Jahren wieder Lokalnachrichten schreiben lassen – unter Pseudonym oder Kürzel.
    »Aber wegen so was bringt man doch niemanden um!« Paul hatte sich aufgesetzt und beide Hände auf die Tischplatte gestemmt. »Es steht doch genug Mist in der Zeitung. Da wird doch dauernd an der Wahrheit gedreht.«
    »Das stimmt«, sagte Anne. »Das können Politiker dir flüstern. Und du kannst nichts dagegen tun. ›Wo Rauch ist, ist auch Feuer‹, heißt es dann.«
    »Und irgend etwas bleibt immer hängen.« Karen kannte den Mechanismus ebenfalls.
    »Aber …«
    »Trotzdem. Sie wäre weggewesen vom Fenster, Paul. Der Skandal hätte sie ruiniert. Für eine ehrgeizige Frau …« Karen schüttelte den Kopf.
    »Sie muß besessen gewesen sein vom Schreiben.« Zu ihrer Überraschung hörte Karen Mitgefühl in Annes Stimme. »Ihren Beruf nicht mehr ausüben zu können – das hätte eine Frau wie Lilly Meier nicht überlebt. Sie muß jahrelang um Anerkennung gekämpft haben – ohne diese Anerkennung, ohne ihren Beruf hätte sie all diese Jahre ihres Lebens verloren.« Anne klang sachlich, als sie das sagte. Karen sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihr hinüber. Anne Burau, dachte sie, weiß, wovon sie spricht.
    Aber wußte sie das im Grunde nicht auch? Sie seufzte auf. Als sie aus dem Fenster sah, war es draußen dunkel geworden. Der Setter, der jetzt zu ihren Füßen lag, seufzte ebenfalls und schmiegte seine Schnauze an ihren
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