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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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wir die Italiener schaffen.« Weniger als zehn Prozent der Bürger sprachen Italienisch, und die Masse kannte nur Dialekte. Doch anders als im 19. Jahrhundert, als auch das Deutsche Reich aus einem Flickenteppich von Königreichen und Fürstentümern hervorging, können und wollen wir eine europäische Vereinigung nicht von oben dekretieren. Wir haben inzwischen starke Zivilgesellschaften. Ohne die Zustimmung der Bürger könnte keine europäische Nation, kann kein europäischer Staat wachsen. Takt und Tiefe der europäischen Integration werden letztlich von den Bürgerinnen und Bürgern bestimmt.
    An dieser Stelle möchte ich einen Blick nach Großbritannien werfen. Mit großem Interesse habe ich die Doppelbotschaft des Premierministers vernommen: Das Ja zu britischer Tradition und zu britischen Interessen, das kein Nein sein sollte zu Europa. Es ist zwar Sache der Briten, über ihre Zukunft zu entscheiden, aber vielleicht sind sie doch bereit, einen Wunsch aus Schloss Bellevue anzuhören:
    Liebe Engländer, Schotten, Waliser, Nordiren und britische Neubürger! Wir möchten euch weiter dabeihaben! Wir brauchen eure Erfahrungen als Land der ältesten parlamentarischen Demokratie, wir brauchen eure Traditionen, eure Nüchternheit und euren Mut! Ihr habt mit eurem Einsatz im Zweiten Weltkrieg geholfen, unser Europa zu retten – es ist auch euer Europa. Lasst uns weiter gemeinsam um den Weg zur europäischen res pu blica streiten, denn nur gemeinsam sind wir den künftigen Herausforderungen gewachsen. Mehr Europa soll nicht heißen: ohne euch!
    Sehr geehrte Damen und Herren,
    es macht mir Sorge, wenn die Rolle Deutschlands im europäischen Prozess augenblicklich bei einigen Ländern Skepsis und Misstrauen auslöst. Die Tatsache, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung zur größten Wirtschaftsmacht in der Mitte des Kontinents aufstieg, hat vielen Angst gemacht. Ich war erschrocken, wie schnell die Wahrnehmungen sich verzerrten, als stünde das heutige Deutschland in einer Traditionslinie deutscher Großmachtpolitik, gar deutscher Verbrechen. Nicht allein populistische Parteien stellten die deutsche Kanzlerin als Repräsentantin eines Staates dar, der heute angeblich wie damals ein deutsches Europa erzwingen und andere Völker unterdrücken will.
    Doch ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern in den Nachbarländern: Ich sehe unter den politischen Gestaltern in Deutschland niemanden, der ein deutsches Diktat anstreben würde. Bis jetzt hat sich die Gesellschaft rational und reif verhalten. In Deutschland fand keine populistisch-nationalistische Partei in der Bevölkerung die Zustimmung, die sie in den Deutschen Bundestag gebracht hätte. Aus tiefer innerer Überzeugung kann ich sagen: Mehr Europa heißt in Deutschland nicht: deutsches Europa. Mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland!
    Wir wollen andere nicht einschüchtern, ihnen auch nicht unsere Konzepte aufdrücken, wir stehen allerdings zu unseren Erfahrungen und möchten sie gern vermitteln. Keine zehn Jahre ist es her, da galt Deutschland selbst als »kranker Mann Europas«. Die Maßnahmen, die uns damals aus der Wirtschaftskrise herausführten, haben – trotz der innenpolitischen Konflikte, die mit ihnen einhergingen – Früchte getragen. Gleichzeitig wissen wir, dass es verschiedene ökonomische Konzepte gibt und nicht nur ein Weg zum Ziel führt.
    Sollten deutsche Politiker vereinzelt zu wenig Empathie für die Situation der anderen aufgebracht haben oder erschien Sachrationalität manchmal wie Kaltherzigkeit und Besserwisserei, so war dies die Ausnahme und nicht die Regel und erklärt sich vielleicht auch aus der notwendigen Auseinandersetzung um den richtigen Weg. Sollten aus kritischen Kommentaren allerdings Geringschätzung oder gar Verachtung gesprochen haben, so ist dies nicht nur grob verletzend, sondern auch politisch kontraproduktiv. Es erschwert oder blockiert den selbstkritischen Diskurs, der in allen Krisenländern zumindest bei einer Minderheit schon deutliche Konturen angenommen hat. Uns in Deutschland aber sollte klar sein, dass, wer seinen Argumenten vertraut, es nicht nötig hat, sein Gegenüber zu provozieren oder zu demütigen.
    Es lohnt sich für alle siebenundzwanzig Partner in unserer Gemeinschaft, noch einmal die Versprechen in Erinnerung zu rufen, mit denen die Währungs- und Wirtschaftsunion einst gestartet ist. Diese Union wird getragen von der Idee, dass Regeln eingehalten und Regelbrüche geahndet werden.
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