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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Diese Union ist ein Geben und Nehmen, sie darf für niemanden eine Einbahnstraße sein. Sie folgt dem Prinzip der Gegenseitigkeit, der Gleichberechtigung und der Gleichverpflichtung. Mehr Europa muss heißen: mehr Verlässlichkeit. Verlässlichkeit und Solidarität stehen und fallen miteinander.
    Ich bin überzeugt: Wenn in Europa alle diesem Grundsatz verpflichtet bleiben, dann kann innereuropäische Solidarität sogar noch wachsen, längerfristig die großen Ungleichheiten auf dem Kontinent verringern und Lebensverhältnisse schaffen, die Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive bieten.
    Sehr geehrte Damen und Herren,
    mehr Europa fordert: mehr Mut bei allen. Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter.
    Aber Sie, Exzellenzen, Sie wissen am allerbesten, dass selbst mit einer pro-europäischen Haltung manche Bemühungen ins Leere laufen. Solche Schwierigkeiten möchte ich heute nicht ausblenden. Eines der Hauptprobleme bei der Herausbildung einer engeren europäischen Gemeinschaft scheint mir die unzureichende Kommunikation innerhalb Europas zu sein. Und damit meine ich weniger die Ebene der Diplomatie als vielmehr den Alltag der Bevölkerung. Bis heute nimmt jedes der siebenundzwanzig Mitgliedsvölker dieselben europäischen Vorgänge oft auf unterschiedliche Weise wahr. Die Berichterstattung der Medien erfolgt fast ausschließlich unter nationalen Gesichtspunkten. Das Wissen über die Nachbarn ist noch immer gering – von einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Studierenden, Geschäftsleuten, Intellektuellen und Künstlern abgesehen. Europa hat bislang keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, die sich mit dem vergleichen ließe, was wir auf nationaler Ebene als Öffentlichkeit bezeichnen. Zunächst fehlt uns eine gemeinsame Verkehrssprache. In Europa sind dreiundzwanzig Amtssprachen anerkannt, zahllose andere Sprachen und Dialekte kommen noch hinzu. Ein Deutscher, der nicht auch Englisch oder Französisch spricht, wird sich kaum mit einem Portugiesen verständigen können, ebenso wenig mit einem Litauer oder Ungarn. Es stimmt ja: Die junge Generation wächst ohnehin mit Englisch als lingua franca auf. Ich finde aber, wir sollten die sprachliche Integration nicht einfach dem Lauf der Dinge überlassen. Mehr Europa heißt nämlich nicht nur Mehrsprachigkeit für die Eliten, sondern Mehrsprachigkeit für immer größere Bevölkerungsgruppen, für immer mehr Menschen, für alle. Ich bin überzeugt, dass in Europa beides nebeneinander leben kann: Beheimatung in der Muttersprache und ihrer Poesie und ein praktikables Englisch für alle Lebenslagen und Lebensalter.
    Mit einer gemeinsamen Sprache ließe sich auch mein Wunschbild für das künftige Europa leichter umsetzen: eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsort für das demokratische Miteinander. Diese Agora wäre noch umfassender, als die Schülerinnen und Schüler sie vielleicht aus dem Geschichtsbuch kennen. Im antiken Griechenland gab es den zentralen Versammlungsort, Kult- und Gerichtsplatz gleichzeitig, einen Ort des öffentlichen Disputs, wo um das geordnete Zusammenleben gerungen wurde. Wir brauchen heute ein erweitertes Modell. Vielleicht könnte unsere Medienlandschaft so eine europafördernde Innovation hervorbringen, etwas wie Arte für alle, ein Multikanal mit Internetanbindung, für mindestens siebenundzwanzig Staaten, für Junge und Erfahrene, für Onliner und Offliner, für Pro-Europäer und Skeptiker. Dort müsste mehr gesendet werden als der Eurovision Song Contest oder ein europäischer Tatort . Es müsste zum Beispiel Reportagen geben über Firmengründer in Polen, junge Arbeitslose in Spanien oder Familienförderung in Dänemark. Es müsste Diskussionsrunden geben, die uns die Befindlichkeiten der Nachbarn vor Augen führen und verständlich machen, warum sie dasselbe Ereignis unter Umständen ganz anders beurteilen als wir. Und in der großen Politik würden nach einem Krisengipfel die Türen aufgehen und die Kamera würde nicht nur ein Gesicht, sondern die gesamte Runde am Verhandlungstisch einblenden.
    Ob mit oder ohne einen solchen TV-Kanal: Wir brauchen eine Agora. Sie würde Wissen vermitteln, europäischen Bürgersinn entwickeln helfen und auch Korrektiv sein, wenn nationale Medien in nationalistische Töne verfallen und ohne Sensibilität oder Sachkenntnis über die Nachbarn berichten. Ich weiß, dass viele Medienkonzerne die
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