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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Urgroßeltern, die Berlin, Warschau und Rotterdam in Schutt und Asche erlebten, haben es geschafft, Europa neu aufzubauen, im Westen konnten sie sogar Wohlstand an Kinder und Enkel weitergeben.
    Ich weiß, liebe Schülerinnen und Schüler hier im Saal, ihr habt euer erstes Taschengeld in Euro erhalten, ihr lernt mindestens zwei Fremdsprachen, ihr macht Klassenreisen nach Paris, London, Madrid, vielleicht auch nach Warschau, Prag oder Budapest, und wenn ihr euren Schulabschluss habt, stehen euch Erasmus-Stipendien oder Berufsbildungsprogramme wie Leonardo da Vinci offen. Ihr lernt miteinander in Europa, statt nur übereinander. Und ihr feiert miteinander: auf europäischen Musikfestivals oder in den lebendigen Metropolen Europas. Keine Generation vor euch hatte so viele erfreuliche Gelegenheiten, sagen zu können: Wir sind Europa! Ja, ihr erlebt tatsächlich »mehr Europa« als alle Generationen vor euch.
    Trotzdem stimmt natürlich, was oft moniert wird: In Europa fehlt eine große identitätsstiftende Erzählung. Wir haben keine gemeinsame europäische Erzählung, die über fünfhundert Millionen Menschen auf eine gemeinsame Geschichte vereint, die ihre Herzen erreicht und ihre Hände zum Gestalten animiert. Ja, es stimmt: Wir Europäer haben bis heute keinen Gründungsmythos nach Art einer Entscheidungsschlacht, in der Europa einem Feind gegenübertreten, siegen oder verlieren, aber jedenfalls seine Identität bewahren konnte. Wir haben auch keinen Gründungsmythos im Sinne einer erfolgreichen Revolution, in der die Bürger des Kontinents gemeinsam einen Akt der sozialen Emanzipation vollbracht hätten. Die eine europäische Identität gibt es genauso wenig wie den europäischen Demos, ein europäisches Staatsvolk oder die eine europäische Nation.
    Und dennoch hat Europa eine identitätsstiftende Quelle – einen im Wesen zeitlosen Wertekanon, der uns auf doppelte Weise verbindet, als Bekenntnis und als Programm. Wir versammeln uns im Namen Europas nicht um Monumente, die den Ruhm der einen aus der Niederlage der anderen ableiten. Wir versammeln uns für etwas – für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität.
    All diese europäischen Werte sind ein Versprechen, aber sie sind auch niedergelegt in Verträgen und garantiert in Gesetzen. Sie sind Bezugspunkt unseres republikanischen Verständnisses – Grundlage dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können. Die europäischen Werte öffnen den Raum für unsere europäische res publica .
    Unsere europäische Wertegemeinschaft will ein Raum von Freiheit und Toleranz sein. Sie bestraft Fanatiker und Ideologen, die Menschen gegeneinanderhetzen, Gewalt predigen und unsere politischen Grundlagen untergraben. Sie will ein Raum sein, in dem die Völker friedlich miteinander leben und nicht mehr gegeneinander zu Felde ziehen. Ein Krieg wie auf dem Balkan, wo bis heute europäische Soldaten und zivile Kräfte den Frieden sichern müssen, darf nie wieder blutige Realität werden.
    Von anderen Kontinenten zugewanderte Menschen wissen das Kostbare an Europa oft besonders zu schätzen. Sie kennen Armut, Unfrieden, Unfreiheit und Unrecht in anderen Teilen der Welt. Sie erleben Europa als Raum des Wohlstands, der Selbstverwirklichung und in vielen Fällen auch als Schutzraum: vor Pressezensur und staatlichen Internetsperren, vor Folter und Todesstrafe, vor Kinderarbeit und Gewalt gegen Frauen oder vor der Verfolgung jener, die eine gleichgeschlechtliche Beziehung leben.
    Unsere europäischen Werte sind verbindlich und sie verbinden. Mögen einzelne europäische Staaten Europas Regeln auch verletzen, so können sie doch vor europäischen Gerichten eingeklagt werden. Mag es auch immer wieder einmal Anlass geben, Europa oder Deutschland zwiespältigen Umgang mit Menschen- und Bürgerrechten vorzuwerfen, so garantiert Europa doch stets eine kritische Öffentlichkeit und freie Medien, die für Verfolgte und Unterdrückte besonders in diktatorischen und autoritären Staaten Partei ergreifen können.
    Der europäische Wertekanon ist nicht an Ländergrenzen gebunden, und er hat über alle nationalen, ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede hinweg Gültigkeit. Am Beispiel der in Europa lebenden Muslime wird dies deutlich. Sie sind ein selbstverständlicher Teil unseres europäischen Miteinanders geworden. Europäische Identität
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