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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat mich eines Schlimmeren belehrt. Jeder Schritt in Richtung eines selbstbestimmten Lebens ist mit neuen Unsicherheiten bedroht. Jede neu gewonnene Freiheit erscheint den Menschen manchmal als unerträgliche Last. Sie flüchten in neue Bindungen – neue Ideologien, neue Autoritäten – oder verharren in alten, starren Denkstrukturen. Auf je unterschiedliche Weise zeigt sich dies in allen Ländern Europas.
    Doch Gott sei Dank können Menschen nicht nur Fluchtwege ersinnen, sondern auch neue Wege bahnen. Polen ist für mich ein positives Beispiel. In den letzten zwanzig Jahren hat sich gezeigt, dass unsere polnischen Nachbarn mehr individuelles Risiko bereit waren zu tragen, sich leichter umorientierten als viele Ostdeutsche und erstaunliche Leistungen bei der Entwicklung und Festigung ihres souveränen Staates vollbrachten. Polen, das der Freiheit in seiner Geschichte den Vorrang vor der Sicherheit gab, das dem Aufständischen mehr huldigte als dem Untertan und dessen Bürger weniger Staat entschieden mehr schätzen als zu viel Staat, dieses Polen könnte manchen in Europa und auch Deutschen Ängste nehmen und Mut geben. Die innenpolitische Lage in Polen ist stabil, die Wirtschaft gewachsen wie in keinem anderen europäischen Land. Und im Unterschied zu Deutschland herrschen – jedenfalls in meiner Wahrnehmung – weit weniger Verdruss und Depressivität.
    Es bleibt nichts anderes, als Freiheit als Herausforderung anzunehmen. Dann werden uns Kräfte zuwachsen, die wir für neue Lösungen in unserem gemeinsamen Europa brauchen.
    65 Vortrag auf Einladung der Universität Lodz, März 2012, Manuskript im Privatbesitz.

Europa: Vertrauen erneuern,
Verbindlichkeit stärken
    Rede zu Perspektiven der europäischen Idee
    Schloss Bellevue, Berlin, 22. Februar 2013 66
    Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
    So viel Europa war nie! Das sagt jemand, der mit großer Dankbarkeit in diesen Saal blickt, der Gäste aus Deutschland und ganz Europa begrüßen darf!
    So viel Europa war nie: Das empfinden viele Menschen derzeit auf ganz andere Weise, zum Beispiel beim morgendlichen Blick in deutsche Zeitungen. Da begegnet uns Europa verkürzt auf vier Buchstaben – als Euro, als Krisenfall. Immer wieder ist von Gipfeldiplomatie und Rettungspaketen die Rede. Es geht um schwierige Verhandlungen, auch um Teilerfolge, vor allem aber geht es um ein Unbehagen, auch um einen deutlichen Unmut, den man nicht ignorieren darf. In einigen Mitgliedsstaaten fürchten die Menschen, dass sie zu Zahlmeistern der Krise werden. In anderen Ländern wächst die Angst vor immer schärferen Sparmaßnahmen und sozialem Abstieg. Geben und Nehmen, Verschulden und Haften, Verantwortung und Teilhabe scheinen vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr richtig und gerecht sortiert in der Gemeinschaft der Europäer.
    Hinzu kommt eine Liste von Kritikpunkten, die schon seit langer Zeit zu lesen und zu hören sind: der Verdruss über Brüsseler Technokraten und ihre Regelungswut, die Klage über mangelnde Transparenz der Entscheidungen, das Misstrauen gegen ein unübersichtliches Netz von Institutionen und nicht zuletzt der Unwille über die wachsende Bedeutung des Europäischen Rats und die dominierende Rolle des deutsch-französischen Tandems.
    So anziehend Europa auch ist – zu viele Bürger lässt die Europäische Union in einem Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zurück. Ich weiß es, ich höre, lese es fast täglich: Es gibt Klärungsbedarf in Europa. Angesichts der Zeichen von Ungeduld, Erschöpfung und Frustration unter den Bürgern, angesichts von Umfragen, die mir eine Bevölkerung zeigen, die unsicher ist, ob unser Weg zu »mehr« Europa richtig ist, scheint es mir, als stünden wir vor einer neuen Schwelle – unsicher, ob wir wirklich entschlossen weitergehen sollen. Diese Krise hat mehr als nur eine ökonomische Dimension. Sie ist auch eine Krise des Vertrauens in das politische Projekt Europa. Wir ringen nicht nur um unsere Währung. Wir ringen auch mit uns selbst.
    Und dennoch stehe ich heute als bekennender Europäer vor Ihnen und spüre das Bedürfnis, mich mit Ihnen gemeinsam noch einmal zu vergewissern, was Europa bedeutet hat und bedeutet, und welche Möglichkeiten es weiter in sich trägt – so, wie ich es heute zu überblicken vermag.
    Für mich ist dieser Tag auch Anlass, neu und kritischer auf meinen euphorischen Satz kurz nach der Amtseinführung zurückzukommen, als ich sagte: »Wir
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