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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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wollen mehr Europa wagen.« So schnell und gewiss wie damals würde ich es heute nicht mehr formulieren. Dieses Mehr an Europa braucht eine Deutung, braucht Differenzierung. Wo kann und soll mehr Europa zu gelingendem Miteinander beitragen? Wie soll Europa aussehen? Was wollen wir entwickeln und stärken, was wollen wir begrenzen? Und nicht zuletzt: Wie finden wir für mehr Europa auch mehr Vertrauen, als wir es derzeit haben?
    Erinnern wir uns: Der Anfang war vielversprechend. Bereits fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlug Frankreichs Außenminister Robert Schuman seinen europäischen Partnern die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Frankreich und Deutschland wurden zu den großen Impulsgebern der europäischen Entwicklung – und ehemalige Kriegsgegner wurden enge Partner. Als wir im Januar den fünfzigsten Jahrestag des Élysée-Vertrags gefeiert haben, war uns noch einmal sehr bewusst, wie kostbar diese Freundschaft für Europa geworden ist und wie groß das Glück ist, diese Freundschaft nun mit einer neuen Generation weiterleben zu können.
    Damals, 1950, war Jean Monnet der Ideengeber. Sein Ziel: die Sicherung des europäischen Friedens durch eine »Vergemeinschaftung«, die den Mitgliedern gleichzeitig nationalen Nutzen versprach. Westdeutschland erreichte mit dieser Integration seine erste Rehabilitierung in der internationalen Staatengemeinschaft. Frankreich und die anderen Partnerstaaten befriedigten durch Kontrolle auch deutscher Kohle- und Stahlproduktion ihr Sicherheitsbedürfnis. Der Gedanke war lange schwer umzusetzen, aber von großer politischer Hellsichtigkeit: Wenn die Wirtschaft verschmilzt, verschmilzt irgendwann auch die Politik. Das sagte Walther Rathenau schon vor hundert Jahren. Und wo einst Staaten um Ressourcen und um die Hegemonie stritten, wächst Frieden durch gegenseitige Verflechtung.
    Für eine umfassende nationenübergreifende Politik war es 1950 aber noch zu früh. Nur Schritt für Schritt sollte aus wirtschaftlicher Integration politische Integration werden, aus immer größeren Feldern von Vergemeinschaftung schließlich ein gemeinsames Europa entstehen – für die einen eine europäische Föderation, für die anderen ein Europa der Vaterländer. Lange Zeit brachte diese pragmatische Methode das Projekt Europa tatsächlich voran. Heute sind wir allerdings gezwungen, die Taktik grundlegend zu überdenken. Weil Entwicklungen ohne ausreichenden politischen Gesamtrahmen zugelassen wurden, sind die Gestalter der Politik bisweilen zu Getriebenen der Ereignisse geworden.
    Selbst an bedeutenden Wegmarken fehlte es in der Vergangenheit oft an politischer Ausgestaltung. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers wurden zehn Staaten in die EU aufgenommen, obwohl das nötige Fundament für eine so große EU noch fehlte. Und so blieben bei dieser größten Erweiterung der EU die Fragen nach einer Vertiefung teilweise unbeantwortet. Als folgenschwer erwies sich auch die Einführung der gemeinsamen Währung. Siebzehn Staaten führten im Laufe der Jahre den Euro ein, doch der Euro selbst bekam keine durchgreifende finanzpolitische Steuerung. Dieser Konstruktionsfehler hat die Europäische Union in eine Schieflage gebracht, die erst durch Rettungsmaßnahmen wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und den Fiskalpakt notdürftig korrigiert wurde.
    Für mich ist jedoch klar: Selbst wenn einzelne Rettungsmaßnahmen scheitern sollten, steht das europäische Gesamtprojekt nicht in Frage. Seine Vorteile liegen bis jetzt deutlich auf der Hand: Wir reisen von der Memel bis zum Atlantik und von Finnland bis nach Sizilien, ohne an irgendeiner Grenze den Reisepass zu zücken. Wir zahlen in großen Teilen Europas mit einer gemeinsamen Währung und kaufen Schuhe aus Spanien und Autos aus Tschechien ohne Zollaufschläge. Wir lassen uns in Deutschland von polnischen Ärzten behandeln und sind dankbar dafür, weil manche Praxen sonst schließen müssten. Unsere Unternehmer beschäftigen neuerdings auch Arbeitskräfte aus allen Mitgliedsstaaten der Union, die in ihren eigenen Ländern gar keine Arbeit oder nur Jobs zu sehr viel schlechteren Bedingungen finden würden. Und unsere Senioren verbringen ihren Ruhestand an Spaniens Küsten, manche auch an der polnischen Ostsee. Mehr Europa ist auf erfreuliche Weise Alltag geworden.
    Deswegen sind die Ergebnisse von Meinungsumfragen nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Zwar ist die Skepsis gegen die
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