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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Becker, der eigentlich Jerzy hieß und seinen Nachnamen mit einem doppelten K schrieb: ein Kind polnischer Juden, das mit zwei Jahren ins Getto von Lodz kam.
    Lodz ist in mir, seitdem ich Gedichte der großen polnischen Dichter las, wie sie Karl Dedecius ins Deutsche übersetzte – jener Karl Dedecius, der in Lodz in einer deutschen Familie geboren wurde, auf das polnische Gymnasium ging und im besetzten Polen in die deutsche Wehrmacht eingezogen wurde.
    Wohl kaum eine andere polnische Stadt hat in so kurzer Zeit erlebt, wie das Nebeneinander und Miteinander von Polen, Juden und Deutschen umschlug in Verfolgung und Vernichtung. Einst war Lodz das »gelobte Land«: Zuhauf kamen sie hierher, die woanders fliehen mussten, Not litten oder vom großen Aufstieg träumten. Die einen wurden reich, beherrschten mit der Tuchindustrie ganze Märkte von Deutschland bis Russland; andere vegetierten unter den erbärmlichen Bedingungen des Manchester-Kapitalismus. Schließlich ging es allen etwas besser – es entstanden nicht nur die großen Fabrikanlagen mit den Palästen der Fabrikanten, sondern auch die für damalige Verhältnisse modernen Arbeitersiedlungen –, und trotz Spannungen kamen Polen, Juden und Deutsche miteinander aus.
    Hitlers Deutschland hat alles zerstört. Lodz wurde als Teil des Warthegaus angegliedert ans Deutsche Reich, Teile der städtischen Elite wurden umgebracht, darunter auch der Fabrikant Robert Geyer, ein deutschstämmiger Pole, der sich weigerte, für Deutschland zu optieren. Die Masse der polnischen Einwohner wurde ins »Generalgouvernement« umgesiedelt oder zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich geschickt. Die Juden wurden ins Getto gepfercht und anschließend in Konzentrationslagern ermordet. Von zweihundertfünfzigtausend Juden aus Lodz und Umgebung überlebten nicht einmal tausend.
    Die Mutter von Jurek Becker kam um, etwa zwanzig Verwandte ebenso, Jurek und sein Vater zogen bei Kriegsende nach Ost-Berlin: Die russischen Panzer, so ihre Überzeugung, würden sie vor deutschen Antisemiten schützen. 1977 siedelte Jurek Becker wegen Differenzen mit dem SED-Staat nach West-Berlin über.
    Karl Dedecius, der nach schwerer Verletzung vor Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft geriet, kam 1950 nach Deutschland, nach zwei Jahren in der DDR setzte er sich nach Frankfurt am Main ab. Seine Mutter war noch im Krieg an Krebs verstorben, sein Vater im Chaos der Lodzer Nachkriegstage erschossen oder erstochen worden. »Niemand weiß, wann, wie und warum. Nun liegt er, der unbekannte Zivilist, mein Vater, in einem unbekannten Loch oder Massengrab verscharrt, irgendwo in der Stadt oder außerhalb, in dem engen Radius mit dem kleinen Horizont, den er nie verlassen wollte. Ein Preis der Musilschen Treue. Der Treue.«
    Treu auf je eigene Weise blieben beide Lodzer Söhne ihrer Tradition in Polen. Jurek Becker gab kurz vor seinem Tod ein Abschiedsfest für seine Freunde – er bereitete Cholent für sie zu, das typische Sabbatgericht osteuropäischer Juden. Dabei hatte er immer behauptet, einem nichtreligiösen Menschen wie ihm verschaffe nur der Antisemitismus jüdische Identität.
    Karl Dedecius übersetzt seit fast sechzig Jahren polnische Dichter und Schriftsteller ins Deutsche – und er ließ sich nie davon abhalten, auch verfemte Dichter zu übersetzen, obwohl er dadurch sein Verhältnis zum volksdemokratischen Polen gefährdete.
    Für mich sind Jurek Becker und Karl Dedecius mahnende Zeugen einer schrecklichen Zeit, in der Hitler-Deutschland den Juden, unseren polnischen Nachbarn, Teilen der eigenen Bevölkerung, aber auch der humanen Tradition Europas unendliches Leid und einen zuvor nie für möglich gehaltenen Schaden zugefügt hat.
    Deswegen ist mein Besuch in ihrer Stadt auch eine Wiederbegegnung mit den bösen Traditionen deutscher Dominanz.
    II
    Ich kam spät nach Polen. Meine ersten Fahrten nach Polen unternahm ich nach dem Umbruch 1989/90. In meiner Erinnerung waren sie immer auch Pilgerreisen.
    Zum ersten Mal in Auschwitz: die Überlebenden und die stummen Mauern sprechen hören.
    Vor dem Werfttor in Danzig bei den großen Kreuzen: Hier hat alles angefangen – die erste unabhängige Gewerkschaft in Osteuropa!
    In Warschau am Grab des ermordeten Priesters Jerzy Popiełuszko bei der Stanisław-Kostka-Kirche: Ich sah die Trauer der vielen und sein mit Blumen überhäuftes Grab – wie gern wäre ich dem tapferen Priester selbst begegnet!
    Mich bewegte die Freiheitsgeschichte, wie sie sich auch im
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