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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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modische Verwerfung von Begriff und Theorie hat der westdeutschen Kommunismusrezeption mehr geschadet als genützt. Es entstand ein Defizit an Erkenntnissen.
    Hinter dem Eifer vieler Kritiker der Totalitarismustheorie standen oft andere als wissenschaftliche Motive. Viele fürchteten, mit der Delegitimierung der linken Diktatur zu eng an jene heranzurücken, die sich vor der Aufarbeitung der rechten Diktatur drückten. Dabei produzierte die Furcht vor der Einseitigkeit des rechten die Einseitigkeit des linken Lagers. Außerdem erschien der Linken eine Kritik des Kapitalismus aufgrund seiner Verbindung zum Nationalsozialismus dringender als eine Kritik des Sozialismus – der angeblich trotz all seiner Fehler einzigen Alternative. Wer diese Engführung im Denken hätte aufbrechen können, wurde ausgegrenzt: seit jeher die »Renegaten«, das heißt die abtrünnigen Kommunisten; in den letzten zwanzig Jahren die osteuropäischen Dissidenten und ganz generell unvoreingenommene Zeitzeugen aus den Ländern des real existierenden Sozialismus. Statt die inoffizielle Sicht von unten einzubeziehen, beschränkte sich die jüngere westdeutsche DDR-Forschung weitgehend auf die Erforschung der offiziell zugänglichen Materialien. Nicht selten analysierte sie Potemkinsche Dörfer.
    Um die Auffassung vom sozialistischen System als »an sich« besserer Alternative aufrechterhalten zu können, musste auch sein Repressionsapparat marginalisiert werden. Dabei hätte beispielsweise eine Analyse seiner Funktionen höchst aufschlussreich für die Charakterisierung des politischen Systems sein können. Welche Rolle spielte der Sicherheitsdienst in den verschiedenen Phasen bei der Ausmerzung alles anderen? War die Verwandlung von nacktem Terror in flächendeckende Überwachung und Kontrolle gleichbedeutend mit einer Liberalisierung? Was besagt ein gigantischer Apparat von gut neunzigtausend Hauptamtlichen für nicht einmal siebzehn Millionen Einwohner – wie in der DDR – über die Stabilität des Staates? Brauchten die kommunistischen Regierungen den Sicherheitsdienst nicht genauso als Stabilitätsersatz wie das Militär oder die zentralistisch dirigierte Kaderpolitik?
    Das Wissensdefizit begünstigte ein Haltungs- und Handlungsdefizit. Ein stärkeres Bewusstsein von der Gewalt nicht legitimierter Macht hätte eine stärkere Abgrenzung gegen die Ansprüche der SED-Machthaber und einen anderen Umgang mit der DDR-Opposition nach sich gezogen. Es ist zwar nicht sicher, ob auch eine realistischere Zukunftsplanung unter Einbeziehung der Wiedervereinigung erfolgt wäre. Sicher hingegen ist, dass eine umfassendere Analyse des sozialistischen Deutschland dem demokratischen Deutschland einen Zugewinn an Selbstbewusstsein erbracht hätte.
    Ich meine damit nicht ein Mehr jenes platten Bewusstseins, dass man mehr sei, wenn man mehr habe. Vielmehr meine ich, dass das politische Selbstbewusstsein der Westdeutschen durch einen exakten Vergleich mit der DDR ein deutliches Plus erfahren hätte. Die westdeutsche Realität wäre zwar nicht als das »Gute«, aber doch als das deutlich weniger Schlechte bewusst geworden. Die sozialistischen Wirtschaftsverhältnisse sollten zwar zur Befreiung von der Knechtschaft des Kapitals führen. Tatsächlich aber haben die Abschaffung des Marktes und die Verweigerung der Mitbestimmung zu einem wirtschaftlichen Ruin geführt. Und die Entfremdung im realsozialistischen System sollte sich als gravierender erweisen als jene, die Marx als Ergebnis kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse kritisierte.
    Zwar sind die westlichen Gesellschaften nicht im seligen Hafen von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit angekommen. Der Weg der Demokratien ist auch ein Kurs durch zahlreiche Klippen. Aber die Demokratie intendierte und entwickelte den politischen Raum, der allen Bürgern geöffnet ist und Partizipation auch tatsächlich ermöglicht. Indem sie Grund- und Bürgerrechte definierte und verwirklichte, gelangte so auch der Lohnabhängige schrittweise zu einer Freiheit und Würde, die in vordemokratischer Zeit nur Minderheiten vorbehalten waren. Es ist das elementare Verdienst der parlamentarischen Demokratie, die eigene Würde und den Wert des Systems nicht ideologisch gesetzt und durchgesetzt zu haben – vielmehr schafft sie den Raum, in dem freie und ermächtigte Individuen und Gruppen ihre Lebensentwürfe durch Kontroverse und Konsens, Gestaltung und Herrschaft aushandeln. Wert und Würde der Demokratie wachsen so von
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