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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Abneigung »auf den Begriff« gebracht und mir zu einer vertieften Kenntnis über die Struktur des Politischen im totalitären Staat verholfen hätten. Ich habe keinen Anlass zu bereuen, dass ich die Bücher von Helmut Gollwitzer, Erhard Eppler oder Dorothee Sölle gelesen habe. Aber warum habe ich beispielsweise Hannah Arendts Texte nicht gelesen? Warum so viel Moralisches über Politik und so wenig Politikwissenschaft? Hatte ich eine Abneigung gegen die Fakten? Genügte es mir, eine Meinung zu einer Realität zu haben, deren Fakten ich mir nicht bis zum Ende erschlossen hatte?
    Es ist bitter, heute auf derartige Fragen mit Ja antworten zu müssen. Genaueres Wissen hätte mich mit der Frage nach entschiedenerem Widerstand gegen das System konfrontiert, hätte möglicherweise auch größere Einsamkeit innerhalb meines Milieus, den Verlust eines Teils meiner geistigen Heimat nach sich gezogen.
    Neben jenen, die sich durch »höhere Einsicht« entmächtigten, existierte aber noch die große Gruppe derer, die sich »durchwurstelten«. Sie gab dem Staat opportunistisch das geforderte Ja – man darf vermuten, dass es ein Aber gab; nur selten oder insgeheim durfte sich jedoch das Nein zeigen. An anderer Stelle habe ich bereits gesagt: Unüberzeugte Minimalloyalität wurde zum Kennzeichen breiter Kreise in den späten DDR-Jahren. Nach dem Prinzip der Drehbühne stellten viele die jeweils nützliche Einstellung in den Vordergrund – sie waren affirmativ und kritisch zugleich. Doppel- und Mehrfachidentitäten wurden zur Normalität.
    Es geht nicht darum, den moralischen Zeigefinder zu erheben und über Charakterschwäche zu rasönieren. Das Aufzeigen solcher Mechanismen soll vielmehr den Grad einer politischen Entfremdung verdeutlichen, die nicht nur aus Opportunismus, sondern vor allem aus Angst erwachsen war. Im kollektiven Gedächtnis waren die Schrecken des frühen Terrors aus stalinistischer Zeit lebendig geblieben, und der übergroße Geheimdienst, das brutale Grenzregime, die unnachsichtige Verfolgung politisch Oppositioneller ließen selbst in den 1980er Jahren die Rückkehr zu stalinistischen Methoden jederzeit als denkbar erscheinen. Zur Bestätigung dieser Vermutung dienten die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 und das Massaker auf dem Tienanmen-Platz 1989 in Peking.
    Zwar erlebten wir in den letzten Jahren vor 1989 einen Kommunismus in der DDR, der nicht mehr mordete und folterte. Dankbare Zeitgenossen haben deshalb allerlei euphemistische Bezeichnungen für diese Ära ersonnen. Eine nüchterne Betrachtung der politischen Verhältnisse wird dennoch zu einem Urteil gelangen, das den Kommunismus ebenso als totalitär einstuft wie den Nationalsozialismus.
    Die Unterschiedlichkeit der Ideologien gerät zwar sofort in den Blick. Auch der Vergleich der Staatsformen, der Staatsorgane und des geschriebenen Rechts ergibt größere Differenzen als Übereinstimmungen. Wer jedoch die konkrete Herrschaftstechnik vergleicht, die dienstbare Rolle des Rechts und den permanenten Einsatz von Terror, der findet genauso Ähnlichkeiten wie bei der Untersuchung der Folgen staatsterroristischer Herrschaft auf die Bürger. In den Blick geraten die Einschränkungen von Individualität und eine starke Entsolidarisierung. Angst um den Erhalt des Lebens oder die Aufstiegsmöglichkeiten trennt die anpassungsbereiten Mehrheiten von Minderheiten, die anders denken und leben und im Extremfall als Feinde, Abweichler oder Schädlinge ausgegrenzt, ja massenhaft eliminiert werden.
    Den Kommunismus als absolutistisch oder despotisch zu beschreiben, scheint mir nicht ausreichend. Wir stehen vor gigantischen Menschheitsverbrechen, und bei allem Streit um Definitionen darf nicht verkannt werden, dass neben dem Nationalsozialismus auch mit dem Kommunismus in diesem Jahrhundert ein Qualitätssprung ins Negative erfolgt ist. Statt des neuen Menschen erblicken wir am Ende des Jahrhunderts den nachhaltig verstörten Menschen, statt der neuen Gesellschaft die zerstörte Gesellschaft. Ob als Frucht der abendländischen Aufklärung, wie dem Skeptiker scheinen mag, oder als Flucht aus der Aufklärung, wie der Optimist hoffen mag: So real wie blutig ist tatsächlich »einmalig« Neues entstanden. Neben den Demokratien stellen die neuen totalitären Systeme das andere Gesicht der Moderne dar. Man hätte den Totalitarismustheorien in den letzten zwanzig Jahren eine sensiblere Beachtung gewünscht. Die
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