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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Kreise in unfreien Systemen. Teile dieser Haltung entdecke ich rückblickend bei mir selber, obwohl ich weder Parteigänger noch Mitläufer war.
    Ich wuchs in einer der vielen Familien auf, die nach dem Krieg die neue Ordnung als despotisch, ungerecht, staatsterroristisch erfuhren. Als ältestes von vier Kindern erlebte ich, wie es ist, wenn der Ernährer »abgeholt« wird. Mein Vater war einer der Deutschen, die ohne Grund in einem Verfahren eines sowjetischen Militärtribunals zu vielen Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wurden.
    Zwar existierte die DDR schon – man schrieb das Jahr 1951 –, aber die Besatzer hatten noch die Macht, ihren stalinistischen Terror auszuüben. Besonders in Familien, die zu Regimeopfern gemacht wurden, gab es neben der Angst eine sehr wache Beobachtung jeglichen Unrechts. Kontakte wurden auch zu anderen Familien aufgenommen, die Ähnliches erlebten, wie die Familien der Tausenden von angeblichen »Werwölfen« 51 , die in der Nachkriegszeit in die teilweise direkt vom NS-Regime übernommenen Lager wie Sachsenhausen oder Buchenwald eingesperrt waren. Da es im ganzen Osten nach dem Krieg kaum »Werwolf«-Aktivitäten gab, waren diese Verhaftungen von halben Kindern und Jugendlichen als reine Willkürakte bekannt. Andere Familien belasteten die Erlebnisse unzähliger Frauen und Mädchen, die in Zusammenhang mit der Befreiung Opfer brutaler Vergewaltigungen geworden waren. Wenn man dann noch bedenkt, dass das zerstörte Land durch umfangreiche Reparationsleistungen und Demontagen zusätzlich niedergedrückt war, wundert es nicht, dass in breiten Schichten der Bevölkerung die Einschätzung verbreitet war, man sei unter ein Unrechtsregime geraten. Vorherrschend war ein hoher Ton der Empörung.
    Die ebenfalls emphatisch vorgetragene politische Moral der Sieger verfing dagegen nur begrenzt. Zwar hatte die Sowjetarmee die Vernichtungslager der Nazis befreit, hatte das Terrorsystem in die Knie gezwungen und dabei einen unsäglichen Blutzoll entrichtet. Zwar hatten sich auch deutsche Kommunisten am Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt und dadurch eine gewisse Sympathie bei Menschen gewonnen, die als Christen, Sozialdemokraten, Liberale oder Unangepasste sich ebenfalls nicht unterworfen hatten. Aber alles in allem überzeugte der kommunistische Antifaschismus nur eine Minderheit. Zu eindeutig waren die Sprache der Repression und die neue politische Wirklichkeit.
    Die Schaffung eines »Blocks« beendete die Eigenständigkeit nichtkommunistischer Parteien und sicherte die Vorherrschaft der Kommunisten, die sich mit der SPD 1946 zur SED vereinigten. Hervorgehobene und wichtige Stellen wurden seitdem fast nur noch mit Kommunisten besetzt. Unbeliebt machten sich die Kommunisten auch, als sie Stalins Territorialforderungen nachgaben und die Westverschiebung Polens und damit den Verlust der deutschen Ostgebiete guthießen. Nicht nur, dass die SBZ sich schwertat, den hohen Prozentsatz von »Umsiedlern« zu integrieren, die in Mecklenburg und Brandenburg ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung bildeten. Einheimischen wie Vertriebenen galt der Verlust der Heimat als grobes Unrecht, das die Kommunisten zementierten, als sie 1950 die Oder-Neiße-Grenze als neue deutsch-polnische Staatsgrenze anerkannten.
    Nach 1952, als die SED die Kollektivierung der Landwirtschaft vorantrieb, in der Industrie keine Erfolge vorweisen konnte und Engpässe in der Versorgung auftraten, spitzte sich die Situation zu. Statt den »Aufbau des Sozialismus« zu unterstützen, stand der Bevölkerung der Sinn nach anderem: Am 17. Juni 1953 entwickelte sich spontan und breit ein fundamentaler Protest gegen Programm und Praxis des SED -Regimes – der erste Volksaufstand in Osteuropa gegen das sowjetische System. In über siebenhundert Städten und Gemeinden wurden Forderungen laut, die keineswegs nur die Verbesserung, sondern die Abschaffung des bestehenden Systems zum Inhalt hatten: »Freie, allgemeine und gesamtdeutsche Wahlen«, »Rücktritt der Regierung«, »Loslösung der Gewerkschaft von der Partei«, »Freilassung der politischen Gefangenen« und »Beseitigung der Zonengrenzen«.
    Ich selbst war damals dreizehn Jahre alt. Die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstands hat sich mir tief eingeprägt. Ähnlich betroffen war ich 1956, als sowjetische Truppen die Freiheitsbestrebungen der Ungarn niederwalzten. In beiden Fällen war selbstbestimmtes Handeln zur Erlangung demokratischer Zustände erstickt
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