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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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errungen sein, Freiheit muss auch immer wieder neu gestaltet werden. Jede Generation steht vor der Herausforderung, für sich und für ihre konkreten Umstände Freiheit zu vollenden, Freiheit, die sich in ihrer schönsten Form als Verantwortung darstellt, und ebendies neu zu erlernen und neu mit Inhalten zu füllen.
    Vor siebenundsechzig Jahren hätten wir den heutigen Zustand einfach nur als paradiesisch empfinden können: Seit drei Generationen teilen Niederländer und Deutsche ihre Werte und setzen sich in Europa und in der Welt gemeinsam für diese Werte ein. Wir können stolz darauf sein, dass unsere Staaten seit Anbeginn Teil des geeinten Europas sind und in vielen Teilen der Welt als ehrliche und berechenbare Akteure geschätzt werden. Von Freiheit, Frieden und Wohlstand, die mit der verstärkten europäischen und internationalen Zusammenarbeit einhergehen, profitieren wir gemeinsam. Ich hoffe, dass dieser einzigartige Erfolg uns die Kraft gibt, auch die heutigen Herausforderungen zu meistern und unsere gemeinsame Zukunft in Europa zu gestalten.
    49 Joachim Gauck, »Befreiung feiern – Verantwortung leben«, in: Reden und Interviews, Band I, hg. vom Bundespräsidialamt, S. 77 bis 89. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundespräsidialamtes.

Über die Rezeption kommunistischer Verbrechen
    Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung
    Der Beitrag erschien 2000 50
    Dem Wunsch des Piper Verlages, dem Schwarzbuch des Kommunismus einen Essay aus ostdeutscher Sicht beizufügen, entspreche ich nur zögernd. Ich bin weder Historiker noch Politikwissenschaftler. Zwar veranlasst mich mein jetziges Amt als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, am öffentlichen Diskurs über die untergegangene DDR-Gesellschaft teilzunehmen. Aber eine erneute Analyse des Stasi-Systems könnte kaum über das hinausreichen, was schon in den letzten Jahren zutage gefördert wurde. Zudem legen die erregten Diskussionen über das Schwarzbuch nahe, einem ganz anderen Phänomen nachzugehen – dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung.
    Um es gleich zu sagen: Die Beschäftigung mit diesem Thema fiel mir nicht leicht. Denn ich spürte und spüre eine deutliche Unlust, meinen eigenen Wahrnehmungsdefiziten zu begegnen, die nun – fast zehn Jahre nach dem Umbruch – überdeutlich geworden sind: Ausblendungen, die eine fundamentale Kritik der politischen Zustände verhinderten und gelegentlich auch illusionäre oder romantische Politikvorstellungen begünstigten. Da meine Abwehrmechanismen allerdings nicht untypisch waren, dürften die folgenden Überlegungen auch für einige meiner Landsleute aus der DDR sowie bestimmte Kreise im Westen zutreffen. Denn nur die lange Jahre vorherrschende Einäugigkeit in der Wahrnehmung erklärt, warum wir zehn Jahre nach seinem Zusammenbruch noch immer über die Menschenfeindlichkeit des Kommunismus streiten.
    Eine grundsätzliche Bemerkung vorweg: In anderen, nicht kommunistisch regierten Teilen der Welt waren Parteigänger und Freunde des Kommunismus Verbündete von Demokraten gegen Diktatoren und brutale Ausbeuter. In manchen autoritären Regimen waren sie entschiedene, manchmal letzte Opposition. Ihr Widerstand und ihre Leidensbereitschaft erwuchsen aus kommunistischen Idealen. Es muss deutlich bleiben, dass wir einen Raum der Achtung offenhalten für jene, deren kommunistischen Idealen wir zwar Skepsis oder Kritik entgegenbringen, deren Haltung als Kämpfer gegen Ohnmacht, Willkür und Unterdrückung uns aber Achtung und Sympathie abringt.
    Auch ohne die von 1990 an erfolgte Öffnung von Geheimdienst-, Partei- und Staatsarchiven, durch die eine Fülle zum Teil unbekannter Fakten zutage gefördert wurde, haben die meisten DDR-Bürger ihrem System kräftig misstraut. Vor einem Aufbegehren allerdings schützten sie sich durch eine ängstliche Restloyalität. Deren Gründe liegen einerseits im forciert vorgetragenen Machtanspruch der Herrschenden, andererseits aber auch in dem Hang breiter Kreise, »es gar nicht so genau wissen« zu wollen. Damals die fehlende Legitimation des realsozialistischen Herrschaftsgebäudes nicht analysiert zu haben erscheint heute als etwas Peinliches. Und weil es nicht angenehm ist, eigene Lücken in der Wahrnehmung zu besichtigen, erinnern wir uns auch lieber selektiv.
    Bei den Verantwortlichen und Tätern der SED -Diktatur ist uns das »Schönreden« der Wirklichkeit geläufig. Tatsächlich aber ist die Neigung, es nicht so genau wissen zu wollen, ein Problem breitester
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