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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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worden. Wahrscheinlich wurde damals jenes Grundgefühl erzeugt, das mich und den größten Teil meiner Landsleute bis 1989 begleitete: das Gefühl der Ohnmacht.
    Konnte man sich der staatlichen Allmacht anfänglich noch einfach durch eine Reise mit der S-Bahn nach West-Berlin entziehen, so verwandelte der Mauerbau am 13. August 1961 die Flucht zu einer Möglichkeit mit tödlichem Risiko. Ich, wir, die Durchschnittsbürger saßen fest hinter der »Mauer«. Wir fühlten uns endgültig ausgeliefert. In meiner Erinnerung veränderte dieser verfestigte Zustand von Ohnmacht und Ausweglosigkeit tiefgehend meine und die Einstellung vieler DDR -Bürger zum SED -Regime. Zwar gab es schon in den 1950er, den stalinistischen Jahren das Phänomen der Anpassung aus Angst; in der neuen Situation jedoch nahm die Anpassung noch zu, obwohl die nackte Repression nachließ. Zu offensichtlich war das sozialistische System auf Dauer angelegt. Hilfe von außen, also Beistand des Westens, war ausgeblieben: 1953, 1956 und 1961.
    So blieb vielen nur die wenig tragfähige Hoffnung, das System möge sich von innen heraus humanisieren. Eigenständigkeit, unangepasstes Verhalten und politische Opposition wurden zur Sache von Minderheiten. Die Masse entwickelte Haltungen, die wir als Minimalkonsens und Mindestloyalität bezeichnen können.
    Es erfolgte so etwas wie ein »Einleben« in die neue gesellschaftliche und ideologische Umgebung in Form eines schleichenden Übergangs vom Akzeptieren zum Mitmachen bis zum Mitverantworten: Die Regel war dabei kein schlagartiger Bewusstseinswechsel (obwohl es auch Mitglieder der NSDAP gab, die von einem Tag zum anderen zu Anhängern des Kommunismus mutierten), sondern ein Prozess, bei dem sich in ein und derselben Person neue Einstellungen und Werte Schritt für Schritt neben den alten etablierten.
    Derartiges kennen wir bereits aus der NS-Ära. In christlichen Milieus konnte Hitler beispielsweise religiöse Gefühle durch die Anrufung des »Allmächtigen« instrumentalisieren, in konservativen Kreisen die Neigung zu starker politischer Führung und die Hochschätzung der Nation. Deklassierten Arbeitern und Bauern hingegen machte er ein Integrationsangebot mit egalitärem Pathos und einem Sozialprogramm.
    Nach dem Fiasko des »Dritten Reiches« fanden die Kommunisten bei Teilen der Intellektuellen und Arbeiter umgekehrt Gehör mit ihrer Forderung nach einer sozialistischen Alternative. Denn das »Monopolkapital« und die »Finanzoligarchie« hätten die NS-Diktatur in den Sattel gehoben; nur eine Macht der Arbeiter und Bauern würde eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung garantieren können. Die Themen Gerechtigkeit und Frieden knüpften zudem an alte Heilserwartungen aus der christlichen Verkündigung an. Bodenreform und sonstige Enteignungen sollten Reichen nehmen und Armen geben – war es nicht Jesus Christus selbst, der die Armen seliggepriesen hatte?
    Zu alledem trat noch ein Element der moralischen Ent-schuldung: Wer zum kommunistischen Lager gehörte, zählte zu den »Siegern der Geschichte« und war somit Teil der guten Welt des Antifaschismus. Verbündeter der Sowjetunion zu sein befreite automatisch von deutscher brauner Schuld. Eine kurze Entnazifizierung in der SBZ diente primär dem Elitenwechsel. Viele NSDAP -Mitglieder wurden zu Unrecht bestimmter Verbrechen beschuldigt, während andere, unter Umständen sogar stärker belastete Karrieren in Partei und Gesellschaft machten: Sobald sie ins Lager der Kommunisten überwechselten, waren sie einer substantiellen Bearbeitung eigener Verstrickung und Schuld enthoben.
    Generell gilt offensichtlich: Wenn sich die Herrscher totalitärer Systeme lediglich auf die Furcht der Unterdrückten oder auf negative Gefühle wie Neid, Hass, Atavismus, Sadismus stützten, würden ihre Staaten eher zusammenbrechen. Dauerhafter werden sie, wenn aus den positiven Motivschichten heraus der Mechanismus von Akzeptieren, Teilnehmen, Mitgestalten und Mitverantworten entsteht.
    Ist dieser Adaptionsprozess in den Anfangsjahren der DDR noch von einer deutlich oppositionellen Bewegung begleitet, so wird er in den 1960er Jahren dominant. In der evangelischen Kirche, in der ich seit 1965 tätig war, zeigte sich der Umschwung von offener Opposition zu Loyalität (freilich unterschiedlicher Abstufung) beispielhaft.
    Ende der 1960er Jahre verabschiedete sich die evangelische Kirche mit ihrer Formel »Kirche im Sozialismus« explizit von der antitotalitären Haltung,
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