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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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unten her in dem Maße, wie Freiheit und Würde des Bürgers wachsen.
    Freie Wahlen, gleiches Recht für alle, eine Verfassung, die die Menschen- und Bürgerrechte schützt, und eine Gewaltenteilung verleihen der Demokratie eine Legitimation, an der es dem sozialistischen System immer gemangelt hat. Wenn dazu noch eine Sozialgesetzgebung tritt, die die Verelendung ausschließt, wenn Bürgerrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit geschützt sind, die eine Kritik an Missständen ermöglichen, wenn dazu eine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit existiert, die dem Einzelnen auch gegen den Staat zum Recht verhelfen kann, dann liegt die Überlegenheit der Demokratie eigentlich auf der Hand. Doch wo, wie im Westen, Unfreiheit abwesend ist, pflegen die Vorteile der Freiheit zu verblassen.
    Wer, wie viele Menschen im Osten, noch die Erinnerung an totalitäre Herrschaft in sich trägt und noch vertraut ist mit der realen Entmächtigung jener Zeit, der könnte deswegen die einäugige Sichtweise auf den Kommunismus überwinden helfen. Denn wie schwach muss der Antifaschismus derer sein, die, in altem Anti-Antikommunismus befangen, die Sprache der Fakten fürchten und der Analyse des Kommunismus Zügel anlegen. Die Wahrnehmung der »schwarzen« Tatsachen roter Herrschaft lässt nur eine Einstellung zu: den antitotalitären Konsens aller Demokraten, der die intellektuelle und politische Äquidistanz zu Demokratie und Sozialismus verbietet.
    50 Joachim Gauck, »Über die Rezeption kommunistischer Verbrechen. Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung«, in: Stéphane Courtois u.a. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror, Piper Verlag GmbH, München 1998, S. 884–894.
    51 Der »Werwolf« war eine kurz vor Kriegsende gegründete nationalsozialistische Freischärlerbewegung. Sie blieb ohne größeres Echo.

Freiheit in der Freiheit

Freiheit
    Das Plädoyer geht zurück auf eine Rede im Januar 2011 beim Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie für Politische Bildung Tutzing 53
    Ich bin in diesem Land viel unterwegs, und nicht selten beschleicht mich dabei das Gefühl, einer gewissen Minderheit anzugehören. Nicht etwa, weil ich aus Mecklenburg komme. Das ist es nicht, was dieses Minderheitengefühl erzeugt. Es ist vielmehr meine tiefe Überzeugung, dass die Freiheit das Allerwichtigste im Zusammenleben ist und erst Freiheit unserer Gesellschaft Kultur, Substanz und Inhalt verleiht. Bei vielen Menschen aber, die mir im Land begegnen, vermute ich eine geheime Verfassung, deren virtueller Artikel 1 lautet: »Die Besitzstandswahrung ist unantastbar.«
    Ich habe nichts gegen Besitz, auch nichts gegen materielle Sicherheit. Das alles ist erfreulich, vor allem wenn man darauf verzichten musste wie meine Generation, die Krieg und Nachkriegszeit erlebt hat. Aber wie kommt es, dass wir Deutschen ein erkennbar anderes Verhältnis zum Grundprinzip der Freiheit haben als etwa die US-amerikanische Nation oder unser polnisches Nachbarvolk?
    Einige Historiker führen unsere Neigung, auf gutem Fuß mit unserer jeweiligen Obrigkeit zu stehen, auf den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) zurück. Damals konnte eine ganze Generation Deutscher hingemordet und missachtet, geschändet, vertrieben und all ihrer Rechte beraubt werden. Nach dem Westfälischen Frieden hätten die Landesherren ihren Untertanen die lang entbehrte Sicherheit, Rechtssicherheit und Überlebenschance garantiert – von daher rühre die tiefe Dankbarkeit der jeweiligen Obrigkeit gegenüber.
    Ich kann und will diesen Erklärungsversuch nicht fachlich beurteilen, Tatsache ist jedenfalls, dass sich bei den Deutschen ein besonderes Verhältnis zur Freiheit entwickelt hat. Heinrich Heine hat es einmal in ein Bonmot gefasst. In seinen »Englischen Fragmenten« heißt es:
    Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Großmutter.
    Ich kann nicht behaupten, dass mich Heines Worte getröstet hätten. Inzwischen weiß ich aber, dass er nur bedingt Recht hatte. Denn das Jahr 1989 hat mich gelehrt, dass sich auch Deutsche für die
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