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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
Autoren: Joachim Gauck
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Freiheit »schlagen« können. In jenem Jahr 1989 hat sich mein Leben in einer wunderbaren Weise verwandelt. Ich war plötzlich wieder in einer positiven Beziehung zu meiner Nation, weil meine Landsleute im Osten, die so lange entfernt von der Freiheit gelebt haben, die Freiheit plötzlich liebten – nicht nur Minderheiten von Dissidenten, Widerständlern und Oppositionellen, nein, breite Schichten aus der Mitte einer Bevölkerung heraus, die viele lange Jahre ganz gut in einer unüberzeugten Minimalloyalität überwintern konnten.
    Diktaturen können lange, sehr lange existieren. Es gibt schließlich bis in unsere Tage kommunistische Diktaturen wie in Kuba oder despotische wie in Afrika, weil die kritische Masse fehlt, die auf die Straße zieht und ganz selbstbewusst beansprucht, sie sei das Volk. Genau genommen hat sich nämlich in der DDR nicht eine Implosion ereignet; die Entwicklung verdankt sich auch nicht nur dem guten Willen eines Herrn Gorbatschow. Letztlich sind es deutsche Bürgerinnen und Bürger gewesen, die auf den sächsischen Straßen die Erkenntnis umgesetzt haben: »Wir sind das Volk!«
    Dieser Satz hat uns gelehrt, dass wir, wenn wir unserer Sehnsucht glauben und ihr vertrauen, die Angst verlieren können. Eine Angst, die die willfährige Dienerin jeder Art von nichtlegitimierter Herrschaft ist, die uns ohnmächtig macht, die uns bindet. In dem Augenblick aber, in dem wir unsere Angst als Angst benennen und Anpassung und Angst als Geschwisterkinder erkennen, wachsen uns jene Kräfte zu, die eine ganze Gesellschaft verändern können.
    Und so erlebten wir innerhalb eines Jahres zwei Gesichter von Freiheit: jenes anarchische Antlitz, das Freiheit immer hat, wenn sie jung ist, das junge Leute begeistern kann und ältere zögern lässt. Es ist die Anarchie von Revolte, Aufstand und Aufruhr, die Bindungslosigkeit und Herrschaftsfreiheit sucht und mit großem Gestus und oft mit jeder Menge Übermut versucht, eine wunderbare Ungebundenheit ins Leben zu rufen.
    Jeder von uns, ob politisch interessiert oder nicht, kennt wenigstens Anflüge davon. Mit vierzehn, fünfzehn, sechzehn oder siebzehn Jahren spüren wir die tiefe Sehnsucht danach, ungebunden zu sein, nicht kommandiert zu werden, selbst unsere Maßstäbe zu bestimmen und zu setzen: Ich möchte dann ins Bett gehen, wann ich es will; ich möchte diese Frau küssen und umarmen und heiraten, wann ich will; ich möchte den Beruf ergreifen, den ich will, und dazu Ja sagen, wozu ich Ja sagen möchte. Da ist sie, die junge Freiheit; sie ist Befreiung.
    Ähnlich ungebärdig ist die junge Freiheit auch auf der politischen Ebene. So ist zum Beispiel die große Französische Revolution (1789–1799) nicht deshalb ins Leben getreten, weil es eine motivierende Revolutionstheorie gegeben hätte. Vielmehr trieben hohe Steuern und eine Hungersnot die Menschen auf die politische Bühne. Erst danach entwickelte sich die »Lehre« von der Revolution, erst dann kamen die ideologischen Revolutionäre – und die Freiheit erhielt ein anderes Gesicht.
    Friedrich Schiller, der die Anfänge dieser Revolution mit Sympathie verfolgt hatte, war über den anschließenden Terror zutiefst erschrocken. Uns allen klingen die Ausrufe des Schreckens in den Ohren, die Schiller über das »rohe gesetzlose Treiben« in seiner Ballade »Das Lied von der Glocke« ausstieß:
    Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte
    Der Feuerzunder still gehäuft,
    Das Volk, zerreißend seine Kette,
    Zur Eigenhilfe schrecklich greift! …
    Da werden Weiber zu Hyänen,
    Und treiben mit Entsetzen Scherz,
    Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
    Zerreißen sie des Feindes Herz …
    Ja, Schiller hat den Terror gesehen. Ob er sich über die französische Ehrenbürgerschaft gefreut hat, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass er die Emancipation des Menschengeschlechts für verfrüht hielt, weil die Subjekte noch nicht reif seien für eine vernunftgeleitete Gesellschaft. Vor der Fratze der ungezügelten Freiheit also hat Schiller sich gefürchtet – und die Freiheit einer humanisierten Gesellschaft trotzdem lieb behalten.
    Auch wir schauen uns nach einer Variante von Freiheit um, die man nicht fürchten muss, weil sie anarchisch ist, die nur die Ungebundenheit, den Aufruhr, nur die Freiheit von etwas kennt. Auch wir haben den Hang zu einer Freiheit, in der wir, wie es uns die Philosophen und Ethiker gelehrt haben, frei sind für etwas und zu etwas. Das habe natürlich nicht ich erfunden, sondern schon als
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