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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord
Autoren: Judith Merchant
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kurz hochkommen?«
    Statt einer Antwort das Schnarren des Türöffners. Auch gut, dachte Janina und trat ein. Ein bisschen leichtsinnig, die Dame.
    Im Inneren des Treppenhauses war es dunkel. Sie hielt sich am geschnitzten Geländer fest, als sie die polierten Holzstufen hochstieg. Schönes Haus, dachte sie, Jahrhundertwende. Kein Wunder, dass unsere Kundin ihre Mutter hier raushaben will, der Marktwert ist bestimmt ganz anständig, und wenn man vermietet … Hier wohnen doch mindestens drei Parteien drin. Das macht an Kaltmiete …
    Vor ihr öffnete sich eine Wohnungstür, und eine alte Dame steckte ihren Kopf heraus. In der Hand hielt sie ein Taschenbuch, den Zeigefinger hatte sie als Lesezeichen zwischen die Seiten geklemmt. »Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, fragte sie anstelle einer Begrüßung geschäftsmäßig.
    Janina setzte ihr süßestes Lächeln auf. So kann man sich täuschen, dachte sie und wühlte in ihrer Handtasche. Doch nicht so arglos, die gute Frau.
    Die alte Dame betrachtete den Ausweis argwöhnisch, warf Janina einen forschenden Blick zu und nickte. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie und ging mit wackeligen Schritten voran. Das Buch in ihrer Hand schwang dabei hin und her.
    In der Wohnung war es warm und stickig. Ein grünes Sofa stand unter dem zweiflügligen Fenster. Auf dem mächtigen Ohrensessel lag eine Wolldecke. Vermutlich hatte Edith Herzberger gerade ein Nickerchen gemacht.
    »Möchten Sie Tee? Ich habe mir gerade eine Kanne gekocht.«
    »Ja, gerne.« Janina nahm auf dem Sofa Platz und sah sich unauffällig um, während die Alte in hektische Betriebsamkeit ausbrach, Tasse, Untertasse und Löffel holte, die in ihren zittrigen Händen in lautes Geklapper verfielen.
    »Schön haben Sie es hier.« Das gehörte zu ihren Standardsätzen. So etwas musste man sagen, wenn man das Vertrauen alter Damen gewinnen wollte. Ebenso wie die Fragen nach Enkeln und Urenkeln, das stundenlange Betrachten von Familienfotos und der Verzehr von staubtrockenem Gebäck, das lange in der Speisekammer darauf gelauert hatte, dass endlich, endlich ein Gast kam und es aß. Und weil die Kinder und Enkel und Urenkel nicht kamen, mussten bezahlte Besucher wie Janina alles aufessen. Brrrr.
    Edith Herzberger war jedoch weit davon entfernt, ihrem Gast Gebäck anzubieten. »Darf ich fragen, was Sie zu mir führt? Ich kann mich nämlich gar nicht erinnern, dass wir telefoniert haben«, sagte sie, sobald sie sich in den Sessel hatte sinken lassen. Ihr liebreizendes Alte-Damen-Gesicht nahm der Frage ein wenig an Schärfe.
    Janina schickte ein trillerndes Lachen in den Raum. »Man erinnert sich ja nicht an alles. Das geht selbst mir so, muss ich Ihnen ganz ehrlich gestehen.«
    Edith Herzberger musterte sie, als schätze sie ihr Alter. »Ich vergesse viel. Deswegen notiere ich mir Telefonate immer ganz besonders sorgfältig. Und mit Ihnen habe ich nicht telefoniert.«
    Na, du bist ja eine ganz Schlaue, dachte Janina. Haben wir auch nicht. Das ist nur ein Spruch, der bei den meisten alten Leuten gut ankommt. Und wenn sie denken, sie hätten ein Telefonat vergessen, habe ich schon einen Fuß in der Tür, denn dann muss ich sie nicht mehr davon überzeugen, dass sie bald dement werden.
    Sie räusperte sich. »Ich komme vom Gerlinde-Bauer-Haus in Oberkassel. Ich bin Außendienstmitarbeiterin, das bedeutet, ich sehe bei den Seniorinnen in der Gegend von Zeit zu Zeit nach dem Rechten. Wir wollen uns vergewissern, dass es ihnen gutgeht.«
    Der Blick der alten Dame wurde wachsam. »Ist das ein Altenheim?«
    »Aber nein! Wir bieten alle möglichen Dienstleistungen für Senioren an, von Freizeitaktivitäten über betreute Busreisen bis hin zu Mahlzeiten auf Rädern, wenn Ihnen das etwas sagt.«
    Die alte Dame nickte und trank einen winzigen Schluck von ihrem Tee. Sie sah aus, als warte sie auf etwas.
    »Ich habe Ihnen hier«, Janina zog mit einer fließenden Bewegung mehrere Hochglanzbilder aus der Handtasche und verteilte sie routiniert wie ein Croupier auf dem Couchtisch, »einige Bilder mitgebracht, damit Sie sich einen Eindruck machen können.«
    »Von Ihrem …« Die alte Dame blickte in ihre Tasse und lächelte still, als habe sie etwas verstanden.
    »Von unserem Seniorenzentrum, ja.« Janina visualisierte einen Schalter, wie sie es im Coaching gelernt hatte. Ein Regler, der ihre Stimme noch ein wenig werbender klingen ließ. Sie drehte ihn ganz nach oben. Dies war der kritische Moment. Sie nahm den zweiten Packen
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