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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord
Autoren: Judith Merchant
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haben, aber selbst wenn man das berücksichtigte, war die Frau erst seit kurzem tot, wahrscheinlich erst wenige Stunden. Genaueres würde der Rechtsmediziner Georg Frenze garantiert auch nicht sagen, er tat sich mit klaren Zeitangaben sehr schwer. Nie wollte er sich festlegen.
    Jan taxierte den dunkelroten Hosenanzug, die eleganten schwarzen Stiefel. Die Frau war auffallend gut gekleidet. Für die Arbeit, vielleicht auch für einen Besuch, aber ganz sicher nicht für einen Spaziergang auf Waldboden.
    »Wo ist ihre Handtasche?«
    »Fehlanzeige. Entweder sie hatte keine dabei, oder der Täter hat sie verschwinden lassen.«
    »Handy, Papiere? Wissen wir, wer sie ist?«
    »Nichts. Einen Ehering trägt sie, aber da müssen wir auf Frenze warten, der kann ihn abmachen.«
    »Sie ist ein bisschen dünn angezogen, findest du nicht? Hatte sie keinen Mantel dabei?«
    »Anscheinend nicht.«
    Es musste an den Felswänden liegen, die Kälte speicherten wie ein Kühlakku. Hier im Tal war es um einiges kälter als auf den Straßen. Ohne triftigen Anlass würde niemand so dünn bekleidet ins Tal spazieren. Vielleicht war die Frau verabredet gewesen und hatte ihr Auto auf der Asphaltstraße stehen gelassen in dem Glauben, gleich zurück zu sein. Oder sie hatte nur rasch etwas holen wollen und keinen Mantel dabeigehabt. Oder der Täter hatte den Mantel verschwinden lassen, weil er irgendetwas verriet. Wenn er Handy und Papiere mitgenommen hatte, lag ihm offenbar daran, dass die Leiche nicht gleich zu identifizieren war. Vielleicht hatte der Mantel ein Monogramm gehabt.
    Elena beobachtete ihn, das Gesicht halb unter ihrem Strickschal verborgen, und er hätte schwören können, dass sie sich fragte, wo seine schicke Lederjacke geblieben war.
    »Wo bleibt Frenze denn?« Vielleicht konnte der sich einmal nützlich machen und ihnen wenigstens sagen, ob jemand dem Opfer den Mantel ausgezogen hatte.
    »Er steckt im Stau. Mir ist kalt. Gehen wir zurück in den Bus?«
    Ihm war auch kalt. Es fühlte sich an, als quöllen Schwaden von Eiseskälte aus der Höhle und breiteten sich im gesamten Tal aus. Der Tag war doch mild gewesen. Oder?
    Wortlos überließen sie den Tatort den Kollegen von der Spurensicherung und gingen zurück. Gern hätte Jan das bedrückte Schweigen vertrieben, aber wie immer nach dem Anblick einer Leiche war sein Kopf wie leergefegt. Als habe der tote Körper alle frohen Gedanken, alle flotten Sprüche absorbiert.
    Mühsam rang er sich zu ein paar sachlichen Bemerkungen durch.
    »Haben wir eine Vermisstenmeldung?«
    »Bisher nicht. Die Frau ist ja noch nicht lange tot, kann sein, dass sie noch gar nicht vermisst wird. Ich habe im Präsidium Bescheid gegeben, dass die sofort anrufen, wenn eine Meldung eingeht.«
    »Okay.«
    »Der Chef will, dass wir ins Präsidium fahren und warten, dass die Mordkommission einberufen wird.«
    »Okay.«
    »Und, Jan? Willst du dich vorher noch mal umziehen?«
    »Ha, ha.«
    Er schnitt ihr eine Grimasse und ließ sie vorangehen, während er sein Handy aufklappte. Da war jemand, den er jetzt sprechen wollte, von dem er wissen wollte, dass alles in Ordnung war. Er führte seine Fürsorglichkeit auf den Anblick der Leiche zurück.
    Es klingelte dreimal, ehe jemand abnahm. »Ja bitte?«
    »Ich bin es. Wie geht es dir, Edith?« Er hatte sich angewöhnt, seine Großmutter beim Vornamen zu nennen. Das fiel ihm nicht leicht. Es klang in seinen Ohren beinahe respektlos, aber es schützte ihn ein wenig vor dem Spott der Zuhörer. Die meisten Menschen fanden es eigenartig genug, wenn ein Kriminalkommissar von dreißig Jahren in einer Wohngemeinschaft mit seiner Großmutter lebte. In einer vorübergehenden Wohngemeinschaft, korrigierte er sich, denn irgendwann würde seine Wohnung ja wohl fertig renoviert sein.
    »Jan! Mir geht es gut, so weit.«
    Ihre Stimme klang unsicher, als überlege sie, wie viel sie am Telefon erzählen sollte.
    »Ist etwas passiert?«
    »Eine Frau war da, aber ich bin sie wieder losgeworden.«
    »Was denn für eine Frau?«
    »Deine Mutter hat sie geschickt. Eine Frau von einem Altenheim. Sie hat mir erzählt, was mir alles zustoßen kann, so ganz allein.«
    »Und was hat Henny damit zu tun?«
    »Nun ja.« Er hörte sie hüsteln. »Ich erzähle dir das später. Wann kommst du denn nach Hause?«
    »Wahrscheinlich spät. Wir haben hier eine tote Frau, die erst noch identifiziert werden muss. Sie hat keine Papiere und so, das kann dauern.«
    »Oh.« Ihrer Stimme war die Faszination
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