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Nexus

Nexus

Titel: Nexus
Autoren: Henry Miller
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aus dem Mittelalter geschnitztes Bild. Ein Labyrinth aus umwallten Straßen, durch die sich Kanäle schlängelten, Statuen (nur von Musikern), schattigen Promenadenwegen, Springbrunnen, vier- und dreieckigen Plätzen. Jede Straße führte zum Mittelpunkt, wo das Gotteshaus mit seinen spitzen Türmen stand. Alles bewegte sich im Schneckentempo. Schwäne schwammen auf der stillen Fläche des Teiches, Tauben girrten im Glockenturm der Kirche. Buntgestreifte Markisen beschatteten die mit Steinplatten ausgelegten Terrassen. So äußerst friedvoll, so idyllisch, so traumgleich!
    Ich rieb mir die Augen. Wo hatte ich dieses Bild nur ausgegraben? War es vielleicht Buxtehude? (So wie mein Großvater das Wort aussprach, stellte ich mir darunter immer einen Ort, keinen Mann vor.)
    «Er soll nicht soviel lesen, es ist schädlich für die Augen.»
    Ich saß auf der Kante seines Arbeitstisches, auf dem er mit eingezogenen Beinen hockte und Anzüge für Isaac Walkers Menagerie feiner Herren anfertigte, und las ihm aus Hans Christian Andersen vor.
    «Leg das Buch jetzt weg», sagte er sanft, «geh hinaus und spiel.»
    Ich gehe in den Hinterhof hinaus, und da ich nichts Interessanteres zu tun habe, gucke ich durch die Ritzen des Bretterzaunes, der unser Anwesen von der Räucherei trennte. Reihen auf Reihen steifer geschwärzter Fische grüßen meine Augen. Der scharfe, beißende Geruch überwältigt mich fast. Sie hängen an den Kiemen, diese starren, erschrockenen Fische. Ihre hervortretenden Augen glitzern im Dunkeln wie feuchte Edelsteine.
    Ich gehe wieder zu meinem Großvater und frage ihn, warum tote Dinge immer so steif sind. «Weil keine Freude mehr in ihnen ist», antwortet er.
    «Warum bist du aus Deutschland fortgegangen?»
    «Weil ich kein Soldat werden wollte.»
    «Ich wäre gern Soldat», sage ich.
    «Warte, warte nur, bis die Kugeln fliegen.»
    Er summt eine Melodie vor sich hin, während er näht. «Fort mit dir jetzt, stör mich nicht. Was willst du denn einmal werden? Schneider, wie dein Vater?»
    «Ich will Seemann werden», antworte ich schnell. «Ich will die Weltsehen.»
    «Dann lies nicht soviel. Wenn du Seemann werden willst, brauchst du gute Augen.»
    «Ja, Großpapa!» (So nannten wir ihn.) «Ich gehe schon, Großpapa.» Ich erinnere mich noch, wie er mir nachsah, als ich zur Tür ging. Es war ein prüfender Blick. Was dachte er wohl? Daß ich nie Seemann werden würde?
    Diese Jugenderinnerungen wurden durch einen verdächtig aussehenden Bummler unterbrochen, der mich mit ausgestreckter Hand um eine milde Gabe bat. Ob ich wohl einen Zehner entbehren könnte? «Sicher», sagte ich. «Ich kann noch mehr entbehren, wenn Sie es brauchen.»
    Er setzte sich neben mich. Er zitterte, als hätte er einen Schlagfluß erlitten. Ich bot ihm eine Zigarette und Feuer an.
    «Wäre ein Dollar nicht besser als zehn Cents?» fragte ich.
    Er sah mich erschreckt an - wie ein scheuendes Pferd. «Was ist es?» fragte er. «Um was handelt es sich?»
    Ich steckte mir selbst eine Zigarette an, streckte meine Beine lang aus und sagte langsam, als entzifferte ich einen Frachtbrief: «Wenn jemand ins Ausland reisen will, um sich dort satt zu essen und zu trinken, nach Belieben umherzuwandern und zu staunen, was bedeutet dann ein Dollar mehr oder weniger? Sie wollen sich sicher noch einen Korn hinter die Binde gießen. Was mich anbetrifft, so möchte ich gern französisch, italienisch, spanisch, russisch und möglicherweise ein bißchen arabisch sprechen können. Wenn es auf mich ankäme, würde ich noch in dieser Minute abfahren. Aber darüber brauchen Sie sich keine grauen Haare wachsen zu lassen. Ich kann Ihnen einen Dollar, zwei Dollar und auch fünf Dollar anbieten. Fünf ist das Maximum - wenn nicht die Todesfeen hinter Ihnen her sind. Kirchenlieder brauchen Sie mir auch nicht zu singen dafür ...»
    Er rückte plötzlich instinktiv von mir weg, so wie man vor einem Glas bitterer Medizin zurückweicht.
    «Mister», sagte er, «mehr als einen Vierteldollar brauche ich nicht. . . zwei Bissen. Das würde genügen. Meinen herzlichen Dank.»
    Er stand halb auf und hielt mir die Handfläche hin.
    «Haben Sie es nicht so eilig», bat ich. «Einen Vierteldollar, sagen Sie. Wozu ist der gut? Was können Sie dafür kaufen? Warum eine Sache nur halb tun? Das ist unamerikanisch. Warum sollten Sie sich nicht eine Flasche billigen Whisky kaufen? Sie könnten sich auch rasieren und die Haare schneiden lassen. Alles mögliche könnten Sie sich
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