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Nexus

Nexus

Titel: Nexus
Autoren: Henry Miller
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verhaltener Gedanke, eine in der Schwebe hängende Note. In äonenweiter Entfernung vom Jetzt - und was war Jetzt? - wird ein anderer Gedanke vielleicht an dessen Stelle treten.
    Brrr! Obwohl einem die Kälte durch Mark und Bein ging, hatte ich doch den Wunsch, dort auf dem Boden des Nichts zu liegen und dieses Schöpfungsbild für immer zu betrachten.
    Es wurde mir deutlich, daß das Schöpfungselement, soweit es sich um Schreiben handelte, wenig mit Denken zu tun hatte. «Ein Baum sucht nicht nach seinen Früchten, er bringt sie hervor.» Schreiben bestand also darin, die Früchte der Phantasie zu sammeln, in das Leben des Geistes hineinzuwachsen wie ein Baum, der Blätter treibt.
    Mochte er tief sein oder nicht, der Gedanke war tröstlich. Mit einem Sprung saß ich auf dem Schoß der Götter. Ringsherum hörte ich Lachen. Es war nicht nötig, Gott zu spielen. Nicht nötig, irgend jemand in Erstaunen zu setzen. Nimm die Lyra und zupf eine silberne Note hervor. Über dem großen Tumult, selbst über dem Klang des Lachens war Musik. Das war der Sinn der höchsten Intelligenz, welche die ganze Schöpfung durchdrang.
    Ich glitt schleunig die Leiter hinab. Ein geradezu lieblicher Gedanke hatte mich gepackt... Du da, der du vorgibst, gekreuzigt und gestorben zu sein, du da mit deiner schrecklichen historia de calamitatibus , warum inszenierst du sie nicht noch einmal als Spiel? Warum erzählst du sie dir nicht selbst und holst ein bißchen Musilc aus ihr heraus? Sind sie echt, deine Wunden? Sind sie noch lebendig, noch frisch? Oder sind sie nur noch literarischer Nagellack?
    Dann kommt die Kadenz ...
    «Kiss me, kiss me, againl» Wir waren achtzehn oder neunzehn damals, Mac Gregor und ich, und das Mädchen, das er zu der kleinen Party mitgebracht hatte, studierte Musik und wollte Opernsängerin werden. Sie war sensibel und anziehend, die beste, die er bis jetzt aufgetrieben hatte oder in dieser Hinsicht je wieder auftreiben würde. Sie liebte ihn leidenschaftlich, obgleich sie wußte, daß er leichtsinnig und treulos war. Als er ihr in seiner leichten, gedankenlosen Art sagte: «Ich bin verrückt auf dich!» fiel sie in Ohnmacht. Sie sang ein Lied, das er nie genug hören konnte. «Sing es noch einmal, niemand kann es singen wie du.» Und sie sang es, wieder und wieder. «Kiss me, kiss me, againl» Es gab mir immer einen Stich, wenn ich sie dieses Lied singen hörte, aber an diesem Abend dachte ich, mein Herz würde brechen. Denn so weit von mir, wie es nur möglich war, saß die göttliche, die unerreichbare Una Gifford, tausendmal schöner als Mac Gregors Primadonna, tausendmal geheimnisvoller und für mich tausendmal unzugänglicher. «Kiss me, kiss me, againl» Wie die Worte mich durchdrangen! Und nicht eine Seele in der lärmenden, lustigen Gesellschaft ahnte meine Qual. Der Geiger kommt auf mich zu, freundlich lächelnd, die Wange an sein Instrument geschmiegt, zieht jeden Ton auf gedämpften Saiten in die Länge, spielt mir leise ins Ohr: «Kiss me . . . kiss me . . . a .. . gain!» Keinen Ton kann ich mehr ertragen. Ich stoße den Geiger beiseite und renne davon. Auf der Straße strömen mir die Tränen über die Backen. An der Ecke stoße ich auf ein Pferd, das mitten auf der Straße herumwandert. Die verlassenste, abgetriebenste Mähre, die ich je erblickt hatte. Ich versuchte, mit diesem elenden Vierbeiner zu sprechen - es ist kein Pferd mehr, nicht einmal ein Tier. Einen Augenblick dachte ich, es verstünde mich. Es sah mich erstaunt an. Dann wieherte es plötzlich erschreckt auf -es wieherte, daß es einem durch Mark und Bein ging, und lief davon. Mit einem Laut wie von einer rostigen Schlittenglocke sank ich zu Boden. Gegröle Betrunkener drang durch die Straße, als wäre eine von besoffenen Soldaten angefüllte Kaserne in der Nähe. Die Party war mir zu Ehren gegeben worden. Und meine geliebte schneeblonde, sternäugige, für immer unerreichbare Una war da. Königin der Arktis. Niemand sah sie so. Nur ich.
    Dies war eine alte Wunde. Sie hatte nicht zu stark geblutet. Schlimmeres sollte folgen, viel Schlimmeres. Ist es nicht merkwürdig? Je schneller sie kommen, desto mehr erwartet man sie — ja, erwartet sie - erwartet, daß sie immer größer, blutiger, schmerzlicher, unheilbarer werden. Und so sind sie es auch .
    Ich schloß das Buch der Erinnerung. Ja, aus diesen alten Wunden konnte man Musik ziehen. Aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen. Mochten sie inzwischen im Dunkeln schwären. Sobald wir
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