Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nexus

Nexus

Titel: Nexus
Autoren: Henry Miller
Vom Netzwerk:
nach Europa kämen, würde ich mir einen neuen Leib und eine neue Seele zulegen. Was waren die Leiden eines Brooklyner Burschen für die Nachfahren der Schwarzen Pest, des Hundertjährigen Krieges, der Ausrottung der Albigenser, der Kreuzzüge, der Inquisition, der Abschlachtung der Hugenotten, der Französischen Revolution, der nie endenden Judenverfolgungen, der Einfälle der Hunnen, des Türkensturms, der Frosch- und Heuschreckenregen, der unsagbaren Machenschaften des Vatikans, der Eingriffe von Königsmördern, sexbesessenen Königinnen und schwachsinnigen Monarchen, von Robespierre und Saint-Just, von Hohenstaufen und Hohenzollem, von Rattenjägern und Knochenzermalmern? Was können ein paar seelenvolle Hämorrhoiden amerikanischen Ursprungs für die Raskolnikows und Karamasows des alten Europa bedeuten?
    Ich sah mich auf einer Tischplatte stehen, ein unbedeutender Kropftäuberich, der seine weißen Kügelchen Taubendreck auf die große Platte fallen ließ, eine Tischplatte, die Europa hieß. Rundherum saßen die Monarchen der Seele, unbekümmert um das Weh und Ach der Neuen Welt. Was konnte ich ihnen nur in der Sprache sagen, die einem solchen weißen Täuberich zur Verfügung steht? Was konnte jemand, der in einer Atmosphäre von Frieden, Überfluß und Sicherheit aufgewachsen ist, den Söhnen und Töchtern von Märtyrern verkünden? Wir hatten allerdings dieselben Vorfahren, dieselben namenlosen Vorfahren, die auf die Folter gespannt, am Pfahl verbrannt, von einem Pranger zum anderen geschleppt wurden, aber die Erinnerung an ihr Schicksal war in uns nicht mehr lebendig, wir hatten uns von dieser qualvollen Vergangenheit abgewendet, wir hatten an dem verkohlten Stumpf des gemeinsamen Stammbaums neue Schößlinge getrieben. Von den Wassern des Lethe genährt, waren wir eine Masse von Undankbaren geworden, hatten längst die Nabelschnur durchschnitten, dümmlich-glücklich wie künstlich hergestellte Wesen.
    Bald, ihr lieben Europäer, werden wir in persona bei euch sein. Wir kommen — mit unseren wunderschönen Koffern, mit unseren goldumrandeten Pässen, unseren Hundertdollarscheinen, unseren Travellerschecks, unseren Reiseführern, unseren eintönigen Meinungen, unseren dummen Vorurteilen, unseren halbgebackenen Urteilen, unseren rosaroten Brillen, die uns zu dem Glauben verführen, daß alles so wohl bestellt ist, daß alles schließlich ins richtige Lot kommen wird, daß Gott Liebe ist und der Geist alles ... Wenn ihr uns seht, wie wir sind, wenn ihr uns schwatzen hört wie die Elstern, werdet ihr wissen, daß ihr nichts verloren habt, wenn ihr in eurer Heimat bleibt. Ihr werdet keinen Grund haben, uns um unsere neuen frischen Körper, um unser vollströmendes rotes Blut zu beneiden. Habt Erbarmen mit uns, die wir so ahnungslos, so zerbrechlich, so verwundbar, so blasenwerfend neu und unbefleckt sind! Wir welken schnell. . .
20
    Als unsere Abreise näherrückte, war mein Kopf voll von Straßen, Schlachtfeldern, Denkmälern und Kathedralen. Der Frühling wuchs wie ein drawidischer Mond, das Herz schlug wilder, die Träume wucherten üppiger, jede Zelle meines Körpers sang Hosianna. Wenn morgens Mrs. Skolsky, berauscht vom Frühlingsduft, ihre Fenster aufriß, hörte ich schon Sirotas durchdringende Stimme. (Rezei, rezeil) Es war nicht mehr der alte vertraute Sirota, sondern ein trunkener Muezzin, der Lobgesänge zur Sonne hinaufschickte. Ich achtete nicht mehr auf den Sinn seiner Worte, ob sie einen Fluch oder eine Klage enthielten, ich legte ihnen einen Sinn unter. «Empfange unseren Dank, o namenloses göttliches Wesen...!» Ich folgte ihm wie ein Gläubiger, meine Lippen bewegten sich stumm zum Rhythmus seiner Worte, ich schwankte hin und her, drehte mich auf den Absätzen, ließ meine Augenwimpern flattern, bewarf mich mit Asche, streute Edelsteine und Diamanten in alle Richtungen, beugte die Knie und erhob mich steine und Diamanten in alle Richtungen, beugte die Knie und erhob mit den letzten erhabenen Noten auf die Zehenspitzen, um sie himmelwärts zu senden. Dann drehte ich mich mit erhobenem rechten Arm, wobei die Spitze des Zeigefingers leicht die Schädeldecke berührte, langsam um die Achse meiner Seligkeit, während meine Lippen den Ton der Maultrommel nachahmten. Wie von einem Baum, der seinen Winterschlaf abschüttelt, schwärmten die Schmetterlinge aus meinem Hosianna rufenden Mund - Hosianna dem Höchsten! Jakob segnete ich und Ezechiel, und nacheinander Rachel, Sara, Ruth und Esther. O
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher