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Nexus

Nexus

Titel: Nexus
Autoren: Henry Miller
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wie wärmend, wie wahrhaft herzstärkend war die Musik, die durch die offenen Fenster strömte! Danke, liebe Hauswirtin, ich werde in meinen Träumen an dich denken. Dank auch, Rotkehlchen, daß du diesem Morgen noch mehr Leuchtkraft verleihst. Dank, ihr lieben Schwarzen, euer Tag wird kommen. Dank, lieber Reb, ich werde für dich in einer zerstörten Synagoge beten. Dank, frühe Morgenblumen, daß ihr mich mit eurem zarten Duft beehrt. Zov, Toft, Giml, Biml... Hört, hört, er singt, der Kantor der Kantoren! Gelobt sei der Herr! Ehre sei König David! Und Salomon dem Weisen! Das Meer öffnet sich vor uns, die Adler zeigen den Weg. Aber noch eine Note, lieber Kantor, eine hohe und durchdringende! Laß sie die Brustplatte des Hohen Priesters erschüttern! Laß sie die Schreie der Verdammten übertönen!
    Und er ließ sie erklingen, mein wunderbarer cantor cantatibus . Gott segne dich, Sohn Israels! Gott segne dich!
    «Bist du heute morgen nicht leicht verrückt?»
    «Ja, ja, das bin ich. Aber ich könnte noch verrückter sein. Warum nicht? Soll ein Gefangener, der aus seiner Zelle befreit wird, nicht verrückt werden? Ich habe sechs Lebensalter plus fünfunddreißigeinhalb Jahre und dreizehn Tage Haft hinter mir. Jetzt läßt man mich frei. Bete zu Gott, daß es nicht zu spät ist!» Ich faßte sie an beiden Händen und machte eine tiefe Verbeugung, als wenn ich ein Menuett tanzen wollte.
    «Du warst es, du , die mich befreit hat. Piß mich an! Es wäre wie ein Segen. Oh, was für ein Schlafwandler war ich!»
    Ich lehnte mich aus dem Fenster und atmete tief den Frühling ein. (Es war ein Morgen, wie ihn Shelley zu einem Gedicht gewählt hätte.) «Gibt es was Besonderes zum Frühstück heute morgen?» Ich drehte mich um, denn ich wollte ihr voll ins Gesicht sehen. «Denk dir nur -keine Sklavenarbeit mehr, keine dummen Ausreden, keine Bettelei mehr, kein Bitten und Schmeicheln mehr. Frei kann ich gehen, frei sprechen, frei denken und frei träumen. Frei, frei, frei!»
    «Aber, Val, Lieber», hörte ich ihre sanfte Stimme, «wir bleiben dort ja nicht für immer.»
    «Ein Tag dort ist wie eine Ewigkeit hier. Und wie willst du wissen, wie lange oder wie kurz unser Aufenthalt sein wird? Vielleicht wird der Krieg ausbrechen, vielleicht werden wir nicht mehr zurückkehren können. Wer kennt das Schicksal des Menschen auf Erden?»
    «Val, du machst zuviel daraus - es wird ein Urlaub sein, nicht mehr.»
    «Nicht für mich . Für mich ist es ein Durchbruch. Ich weigere mich, mich mit einem Urlaub auf Ehrenwort zu begnügen. Ich habe hier meine Zeit abgedient, hier bin ich fertig.»
    Ich zog sie ans Fenster. «Schau! Schau gut hin! Das ist Amerika . Siehst du die Bäume da, die Zäune, die Häuser. Und diese Trottel, die da drüben aus dem Fenster hängen? Meinst du, ich werde sie vermissen? Nie!» Ich begann, wie ein Halbirrer zu gestikulieren. Ich zog, ihnen eine Nase. «Euch vermissen, euch Blödlinge, euch Tröpfe? Ich nicht. Nie . . . nie . . . mahl»
    «Komm, Val, setz dich. Iß ein wenig.» Sie führte mich zum Tisch.
    «Gut also, frühstücken . Heute morgen möchte ich eine Scheibe Wassermelone, den linken Flügel eines Truthahns, ein Stück Beutelratte und ein paar Schnitten gutes altmodisches Maisbrot. . . Vater Abraham hat mich erlöst. Geh nie wieder nach Carolina zurück. Vater Abraham hat uns alle befreit. Halleluja!
    Überdies», sagte ich, indem ich wieder mit meiner natürlichen Blechstimme sprach, «werde ich keine Romane mehr schreiben. Ich bin erwähltes Mitglied der Wildentenfamilie. Ich werde mein hartverdientes Elend aufzeichnen und es ganz unmelodisch abspielen — in den Obertönen. Was sagst du dazu?»
    Sie stellte mir zwei weichgekochte Eier, Toastschnitten und Marmelade hin. «Kaffee kommt sofort. Rede weiter!»
    «Reden nennst du das? Hör mal, haben wir noch das Poeme d'Extasel Leg es bitte auf, wenn du es findest. Laß es laut ablaufen. Seine Musik klingt, wie ich - manchmal - denke. Hat diesen fernen kosmischen Einschlag. Göttlich regelwidrig. Ganz Feuer und Luft. Nachdem ich es einmal gehört hatte, spielte ich es immer wieder und konnte mich nicht entschließen, die Platte stillzulegen. Es war wie ein Bad aus Eis, Kokain und Regenbogen. Wochenlang ging ich im Trancezustand umher. Irgend etwas war mit mir geschehen. Das klingt zwar verrückt, aber es war so. Jedesmal, wenn mich ein Gedanke durchzuckte, öffnete sich eine kleine Tür in meiner Brust, und da saß in seinem behaglichen kleinen
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