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Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte

Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte

Titel: Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
Autoren: Arena
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mit beiden Händen.
    Das Mädchen tut dasselbe.
    Es ist natürlich ein Spiegel. Ein Spiegel, über dem Kleiderhaken angebracht sind. An einem davon hängt eine Jacke, die den Großteil des Rahmens verdeckt. Ich kicke das Durcheinander auf dem Boden beiseite, schiebe die Jacke weg und starre mich an. Mich selbst. Die, die ich wohl sein muss.
    Aber es ist ein Gesicht, das ich nicht wiedererkenne.
    Strähniges blondes Haar, das bis auf die Schultern fällt. Auf meine Schultern. Fünfzehn, sechzehn, siebzehn? Große blaue Augen. Eine gerade Nase mit einem leichten Höcker, darunter Lippen, die geschwollen aussehen. So blasse Haut, dass die Sommersprossen auf den Wangen hervorstechen, als wären es mit Paintbrush aufgetragene Spritzer. Bin ich immer so blass oder kommt das vom Schock und vom Blutverlust? Auf meinem Kiefer zeichnet sich ein Schatten ab, der sich wahrscheinlich zu einem Bluterguss entwickelt. Mir klopft das Herz bis zum Hals und bis in die blutigen Fingerspitzen. Am liebsten würde ich mich übergeben.
    Stattdessen öffne ich meinen Mund und schaue mir meine Zähne an. Ebenmäßig und weiß. Ich stecke mir den Zeigefinger in den Mund und berühre den Zahn, der sich vorhin lose angefühlt hatte. Es ist der untere linke Eckzahn. Er wackelt. Ich ziehe die Hand zurück, aus Angst, er könnte herausfallen. Ich habe schon so viel verloren: meine Fingernägel, meinen Namen, meine Identität. Ich brauche jetzt nicht auch noch einen Zahn zu verlieren.
    Ich spähe durch die rot-weiß karierten Vorhänge neben der Vordertür und ziehe sie beiseite, als ich nichts und niemanden sehe, abgesehen von einem verlassenen dunkelblauen Geländewagen, Bäumen und einer matschigen Straße. Ich stecke die Pistole in den Bund meiner Jeans, hole die Schlüssel aus meiner Hosentasche und drücke auf den Autoschlüssel. Die Rücklichter des Geländewagens leuchten auf und etwas in mir entspannt sich. Ich werde von hier wegkommen.
    Ich brauche Hilfe und muss mich in Sicherheit bringen. Aber bevor ich gehe, schaue ich mich rasch um, ob ich etwas Nützliches entdecke, das ich mitnehmen kann. Irgendwelche Hinweise darauf, was hier geschehen ist, wer ich bin, warum mich jemand umbringen will.
    Der schwarze Ofen ist nicht an. Darüber befindet sich ein Kamin aus Flusskieselsteinen, anscheinend das Einzige, was der Suchen-und-Zerstören-Mission nicht zum Opfer gefallen ist. Die beiden Männer hatten wohl keinen Sinn darin gesehen, die Gegenstände, die darauf stehen, herunterzuwerfen: eine lange, gescheckte Feder, ein zu einem weißen Skelett zerfallenes Laubblatt, eine halbe himmelblaue Eierschale, die über meinen kleinen Finger passen würde. Und in der Mitte ein gerahmtes Foto. Darauf ist ein Mann zu sehen, der seinen Arm um die Schultern einer Frau gelegt hat. Die Frau hält einen kleinen Jungen an der Hand. Neben ihnen steht ein Mädchen und grinst. Es zeigt mit den Händen einen Abstand an, als würde es etwas messen.
    Das Mädchen bin ich. Ich schaue noch einmal in den Spiegel und dann wieder hinunter auf das Foto. Ich bin inzwischen wohl ein wenig älter als auf dem Bild, aber das bin eindeutig ich. Wer die anderen sind, weiß ich nicht. Ich erkenne sie nicht wieder.
    Ich nehme die Jacke vom Haken. Es ist eine schwere braune Wachsjacke mit grün kariertem Futter. Ich glaube, es ist eine Männerjacke, vielleicht gehört sie dem Mann auf dem Foto. Ich ziehe sie an, rolle meine verletzten Finger ein, als ich sie durch den Ärmel schiebe, damit sie den Stoff nicht berühren. Die Bündchen enden knapp über meinen Fingerspitzen. Ich lasse das Foto in eine der aufgesetzten Taschen vorne an der Jacke gleiten.
    Rasch überprüfe ich die beiden kleinen Schlafzimmer. In einem davon steht ein Doppelbett, im anderen stehen zwei Stockbetten. Die Laken sind heruntergerissen, die Matratzen hängen halb aus den Betten – sie sind aufgeschlitzt. Unten in den Schränken liegen jeweils ein kleiner Haufen Kleider und Kleiderbügel; dazu ein Durcheinander aus Stiefeln, Skiern, Snowboards, Angelruten, alten Spielen, nicht zusammenpassenden Betttüchern und ausgebleichten Decken. Kommodenschubladen stehen offen, aber sie sind so gut wie leer. Ich entdecke Wollsocken, ein blaues Halstuch, eine Haarbürste mit ein paar blonden Haaren in den Borsten. Ich bin zu nervös, um mich weiter umzuschauen. In meinem Nacken prickelt es und immer wieder fährt mein Kopf ruckartig herum, weil ich damit rechne, dass der Typ, den ich gefesselt habe, im Türrahmen
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