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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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Phänomen aus seiner Kindheit: Man kam mit einem Arm voller Blumen nach Hause, die man in einem öffentlichen Park oder von einer Verkehrsinsel gepflückt hatte. Statt aber nun für diese Tat gelobt zu werden, wurde man gescholten: Wenn das alle machen würden, dann gäbe es draußen bald keine Blumen mehr. Schon als Kind war aber klar, dass irgendetwas an dieser Argumentation nicht stimmte, denn schließlich machten das eben nicht alle, und man war doch der Einzige gewesen.
    Recht hat das Kind, denn das Verallgemeinern muss passen und ist laut dem amerikanischen Philosophen Marcus George Singer nicht zulässig, wenn der Zustand »wenn alle das täten« genauso wenig wünschenswert wäre wie der Zustand »keiner tut das«.
    Das ist leicht einzusehen: Wenn das Kind etwa, anstatt einen Strauß illegal gepflückter Blumen zu offerieren, den Wunsch äußern würde, Arzt zu werden, würde wohl niemand darauf antworten: Das geht nicht. Wenn das alle machen würden!
    Dabei wäre es durchaus schlimm, wenn alle Kinder einer Generation Arzt wären, denn dann würde die Menschheit verhungern.
    Weil also der Zustand, dass niemand Arzt ist, genauso schlimm ist, wie wenn alle Arzt wären, ist eine Verallgemeinerung in diesem Falle unzulässig.
    Mit dem guten Benehmen ist es genauso: Es wäre scheußlich, wenn alle sich schlecht benehmen würden, aber wenn alle nur brav das Richtige täten, wäre es noch viel scheußlicher. Ob man sich also »gut« oder »schlecht« benimmt, muss man von Fall zu Fall selbst entscheiden.
     
    Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einem Land, in dem Benimm und Manieren noch wirklich etwas bedeuten. Die Straßen sind sauber, in U-Bahnen und Bussen wird nicht gegessen und auch kein lautes Wort gesprochen, Rauchen kennt man in diesem Land nur vom Hörensagen. Die Menschen sind höflich und sagen immer die Wahrheit. Denn nachweisbares Lügen wird mit acht Stockhieben auf das nackte Gesäß bestraft. Doch gelogen wird hier nicht – Rücksichtslosigkeit liegt den Einwohnern dieses Landes einfach nicht im Blut. Pornografie ist verboten, jegliche abweichende Sexualität, wie etwa Oralverkehr, wird mit Gefängnis geahndet. Kaugummikauen in der Öffentlichkeit zieht eine empfindliche Geldbuße nach sich, spuckt man das Kaugummi gar auf den Boden, hat man eine Woche lang in einer auffälligen Warnweste mit der Aufschrift »Wiedergutmachungsmaßnahme« öffentliche Plätze oder Strände zu säubern. Wollen Sie in diesem Land des ewigen guten Benimms leben? Wenn ja, packen Sie Ihre Koffer, denn dieses Land existiert. Es heißt Singapur.
     
Manieren sind etwas für Leute,
die nicht nachdenken wollen.
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    Dass man selbst nachdenken darf, macht das Zusammenleben natürlich komplizierter – und nicht einfacher, wie es Sinn und Zweck von Manieren ist. Manieren nehmen uns in gewisser Weise nämlich das Nachdenken ab, denn sie sind in Form gegossene Verhaltensweisen, die man ungefragt anwendet. Wer sich manierlich benimmt, zeigt genau das Verhalten, welches andere in bestimmten Situationen von ihm erwarten, nichts weiter. Dafür braucht es jedoch nicht gleich eines Verweises auf Kant. Es lässt sich zum Beispiel auch mit einiger Berechtigung behaupten, dass Wolfram Siebeck sich unmanierlich verhält, wenn er inmitten von unwissenden Schauspielern und anderen Proleten sein Weinglas am Stiel ergreift. Denn weil das ja kaum jemand mehr erwartet – wie er selbst beobachtet hat –, muss er folgerichtig alle Anwesenden mit dieser provozierenden Geste, dieser demonstrativen Zurschaustellung seiner Andersartigkeit verblüffen und düpieren.
     
Manieren kann man nicht einfordern,
schon gar nicht mit der Hilfe von Immanuel Kant.
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    Ob Marlon Brando sich gegen ein Regal lehnt oder nicht, ob Siebeck sein Weinglas am Stiel hält oder wie ein Bauer daraus trinkt, ob Helmut Schmidt in seinem Büro raucht oder nicht, wäre Immanuel Kant wohl ziemlich egal. Gehütet hat er sich auch in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft davor, seine Formel den Spezialfällen des Alltags auszusetzen – wie eben dem Fall des Vaters eines kranken Sohnes oder dem einer unheilbaren Kleptomanin oder der finanziellen Situation der Gemeinde des Yorker Pfarrers Tim Jones. Außerdem ist das Leben nicht nur reine Vernunft, im Alltag ist es meist mehrschichtig. Es ist von außen betrachtet zum Beispiel nicht zu erkennen, ob ein Mann, der seiner Begleiterin beim Betreten eines Gebäudes nicht die Tür aufhält, dies tut, weil er es nicht besser
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