Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
Vom Netzwerk:
schlecht zu benehmen, ist erlaubt, sich über das Benehmen anderer zu beschweren, verrät den Kleinbürger.
    Denn der Kleinbürger und Spießer hat aus diesem Spiel ernst gemacht, weil er damit etwas erreichen will: Theodor W. Adorno schreibt in seinem Text Theorie der Halbbildung , dass die Bourgeoisie stets darauf aus war, den Adel zu imitieren. Denn seit dem Erstarken des Bürgertums im 19. Jahrhundert schlummerte in jedem Großbürger der inständige Wunsch, irgendwann zu Höherem aufzusteigen – und das Weinglas am Stiel zu halten statt am Kelch, war eben schon der erste Schritt dorthin. Irgendwann begann dann der Kleinbürger damit, den Großbürger zu imitieren: Auch er träumte nun davon, dazuzugehören und ein besseres Leben zu führen – mit Klaviermusik und Ballettunterricht für die Kinder, mit Literatursalons und Briefen, in denen tiefe Gefühle und Einsichten mitgeteilt werden. Und das Ganze umgeben von Kunst und Kultur in einer Villa, die sauber gehalten wird von Personal. Niemals mehr Geldsorgen, Streit, Geschrei oder Weckerklingeln um sechs Uhr morgens. Eine adelige Lebensweise eben, die verrät, dass beide Schätze – sowohl Muße als auch Geld – reichlich vorhanden sind.
    Leider begreift der Kleinbürger nicht, dass die Vornehmheit flöten geht, wenn das »feine Benehmen« in den Dienst der Außenwirkung gestellt wird. Fleiß und Pünktlichkeit sind seiner Meinung nach immer noch angeraten, selbst heute, wo allzu korrektes und unnatürliches Benehmen fast lächerlich wirkt, wo Anzug und Krawatte eher den Untergebenen als den Chef verraten. Und wo sich in kaum einer Branche mehr die nächste Stufe auf der Karriereleiter durch Ausdauer und Bescheidenheit verdienen lässt. Im Gegenteil. Meistens sind es die Untreuen und Ungeduldigen, die die Chancen, welche sich ihnen bieten, am schnellsten ergreifen.
    Dass sich Adel dadurch verrät, dass man gar nicht wirken muss und deswegen die geläufigen Regeln lässig übertritt, kommt einem Kleinbürger gar nicht in den Sinn.
     
Manieren zu haben,
ist feige und langweilig.
----
    Sich an Benimmregeln und akzeptierte Umgangsformen zu klammern, ist nur eine Flucht vor den vielen Ambivalenzen und Unwägbarkeiten des Lebens. Manieren sollen schützen vor den eigenen Wünschen, Unsicherheiten und unkontrollierbaren Impulsen. In einem Benimmkurs oder einem Bewerbungstraining suchen die Teilnehmer nach einer Anleitung, um das brüchige Eis der zwischenmenschlichen Begegnung zum spiegelnden, aber rutschsicheren Parkett zu machen. Unvorhergesehenes soll ausgeschlossen werden, oder zumindest möchte man darauf vorbereitet sein.
    Dass das Zusammensein mit anderen dann eher öde als aufregend ist, wird dabei in Kauf genommen – Hauptsache, die Betreffenden müssen sich nie wieder steif, unsicher oder fehl am Platz fühlen. Dafür lehnen sie dann diejenigen öffentlich ab, die absichtlich oder unabsichtlich danebenhauen. Heimlich aber freuen sie sich daran, schauen liebend gern Talkshows mit sogenannten Skandalnudeln und Sendungen, in denen sich ungeschickte Menschen lächerlich machen. Bei Einladungen, Empfängen und Partys genießen sie die Anwesenheit von Menschen, die sie selbst niemals zu sich nach Hause einladen würden. Sie möchten mithilfe von Menschen, die sich schlecht benehmen, etwas erleben – aber bitte nicht von ihnen belästigt werden. Sie können über solche Leute lachen und lästern – aber leider nicht mit ihnen umgehen.
     
    Statt sich gut zu benehmen, sollten sie sich lieber fragen, wie es wäre, wenn
     
keiner mehr reizt und provoziert wie Klaus Kinski,
keiner mit seiner Ehrlichkeit oder Dreistigkeit verblüfft wie Karl Lagerfeld,
niemand durch seinen Fehltritt entkrampft und amüsiert wie Guildo Horn,
keiner durch neue Ideen zeigt, welche Regeln schon längst überholt sind, wie Kinder es tun,
kein ausländischer Gast darauf aufmerksam macht, welche Manieren dem oft geforderten interkulturellen Dialog im Wege stehen und
niemand mehr durch sein schlechtes Benehmen indirekt das gute erstrebenswert macht wie Oliver Pocher.
     
    Das Leben wäre langweilig und blöd und das Miteinander zum Stillstand verurteilt.
    Vielversprechender ist ein kreativer Umgang mit den Spielregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Niemand mag Menschen, die sich stets korrekt benehmen, und niemand möchte selbst so sein. Die meisten möchten Ungeheuerlichkeiten erleben, um sie weitererzählen zu können, möchten Wildes sagen und tun, damit über sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher