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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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weiß, oder aber, weil sein Arm so furchtbar schmerzt, weil er ihr gestern beim Umzug geholfen hat. Darüber hinaus müssen auch die vielfältigen Persönlichkeiten und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse bei einer Beurteilung berücksichtigt werden. Vielleicht weiß der nicht türenaufhaltende Mann, dass seine Begleiterin diese Höflichkeitsgeste nicht schätzt oder aus einem Land kommt, in dem dies nicht üblich ist. Niemand würde beispielsweise Michelle Obama moralisch verurteilen, weil sie beim Besuch bei der englischen Queen Anfang 2009 gegen die Etikette verstoßen hat, indem sie der Queen die Schulter tätschelte. Michelle Obama wollte sich ja nicht schlecht benehmen, sondern gerade besonders herzlich zeigen. Und ihre kulturelle Prägung als Amerikanerin ist nun einmal eine andere als die der Queen.
     
    Doch hinter dem Weinglas-falsch-Halten und dem Ellenbogen-auf-dem-Tisch steht eine falsche ethische Haltung, nämlich Respektlosigkeit den Mitmenschen gegenüber, und diese Haltung wäre es, die sie kritisierten, sagen Siebeck, von Hardenberg und Benimmexperte Horst Hanisch. Was sie fordern, ist wieder mehr Respekt.
    Tatsächlich wäre die Absicht, »respektlos zu sein«, nach dem KI nicht zulässig: denn die Handlungsmaxime, vor anderen Menschen keinen Respekt haben zu wollen, ist in sich widersprüchlich, weil man ja für die Forderung nach dem Ausleben der eigenen Respektlosigkeit Respekt erwartet. Aber Respekt und Manieren hängen keinesfalls, so wie es die Benimmfürworter suggerieren, untrennbar und für alle Zeiten unverrückbar miteinander zusammen. Im Gegenteil.
    Oft zementieren der Respekt vor einer Regel und die entsprechenden Manieren gesellschaftliche Zustände, die längst überholt sind: Rosa Parks, eine schwarze Amerikanerin aus Montgomery, löste beispielsweise vor 55 Jahren den Protest gegen die Rassentrennung im Süden der USA aus, weil sie sich weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizumachen – was damals eine vorgeschriebene Verhaltensregel war.
     
    Ein aktuelles Beispiel ist der Protest der Anwohner in Berlin-Kreuzberg gegen die Gentrifizierung ihres Viertels: Um das Viertel unattraktiv für Yuppies zu machen, die sich für viel Geld Eigentumswohnungen am Spree-Ufer kaufen, Fabriketagen zu großzügigen Lofts umbauen lassen und somit die Mietsätze in dem Viertel so hochtreiben, dass sich die Menschen, welche das Viertel überhaupt zu dem gemacht haben, was es ist, nicht mehr leisten können, ruft die Gruppe Soziale Kämpfe zu folgenden Gegenmaßnahmen auf:
     
Verlassen Sie das Haus nur noch im Jogginganzug und Feinrippunterhemd und mit einer Bierflasche – sind Sie auf dem Weg zur Arbeit, ziehen Sie sich erst um, wenn Sie den Stadtteil Kreuzberg verlassen haben.
Gehen Sie in Gruppen herum, pöbeln und fluchen Sie, und spucken Sie auf die Straße.
Hängen Sie Aldi- oder Lidltüten in Ihre Fenster.
Schrauben Sie ausrangierte Satellitenschüsseln an Ihre Hausfassaden.
Spielen Sie laute Heavy-Metal-Musik, und lassen Sie dabei Ihre Fenster offen stehen. Besprechen Sie mit Ihren Nachbarn, wann es diese am wenigsten stört.
Erscheinen Sie mit all Ihren Freunden auf Besichtigungsterminen für überteuerte Wohnungen – und feiern Sie dort eine Überraschungsparty mit Ghettoblaster und mitgebrachten Getränken.
     
    Mit anderen Worten, jeder Kreuzberger soll mithelfen, das Straßenbild und die Atmosphäre seines Viertels so zu gestalten, dass den Reichen ihre Freude an ihren 200-Quadratmeter-Lofts gründlich verdorben wird. Es gibt sogar schon ein Wort für dieses Vorgehen: In der Sprache der Soziologen wird das zivilgesellschaftliche Deattraktivierungsstrategie genannt.
     
Benehmen Sie sich schlecht –
und verbessern Sie die Gesellschaft!
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    Wie bereits an diesen beiden Beispielen deutlich wird, ist es problematisch, Manieren zu einer Frage der Ethik oder des Anstands hochzustilisieren. Denn hier sind es gerade die, die gegen gängige Regeln verstoßen und keine Manieren zeigen, die etwas Positives tun und bewirken.
    Trine, die Köchin der Buddenbrooks und Rosa Parks aus den Südstaaten wehrten sich gegen unmoralische Zustände. Der Kreuzberger Widerstand hilft allen, die zu wenig Geld haben, um sich von Hausbesitzern und Vermietern freizukaufen. Und Marlon Brandos Regelverstöße führten zu einer der größten Neuerungen Hollywoods, nämlich der Ablösung des glatten Helden durch wirklich interessante, weil gespaltene Protagonisten. Immanuel Kant machte durch
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