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Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Nett ist die kleine Schwester von Scheiße

Titel: Nett ist die kleine Schwester von Scheiße
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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angeklickt werden, die in dieser Szene illustriert waren, etwa ein fälschlicherweise offen gelassenes Jackett. 80 Prozent der Teilnehmer erreichten nicht die volle Punktzahl. Und das sollte ein Kaufargument sein! Wozu aber sich richtig benehmen, wenn das die meisten Leute gar nicht mehr bemerken? Wozu das Jackett korrekterweise geschlossen lassen, wenn 80 Prozent vielleicht gar kein Jackett mehr anhaben?
     
    Menschen wie Siebeck und Frau von Hardenberg werden wohl noch so lange über falsch zugeknöpfte oder fehlende Jacketts jammern, bis kaum jemand mehr dieses Kleidungsstück im Schrank hat. Dafür werden sie just in dem Moment ein Loblied auf das T-Shirt anzustimmen beginnen, wenn es aus der Mode kommt. Es gibt immer irgendeine Verhaltensregel, die gerade am Verschwinden ist, doch dies zu bedauern, ist unnötig, denn dafür kommen ja ständig neue hinzu. Und dies dank der Menschen, welche die Regeln, die sie einengen oder die sie als überflüssig empfinden, einfach brechen. Sie, und nicht die selbst ernannten Benimmexperten, sind die Avantgarde der Gesellschaft.
    Wie Trine, die Köchin der Buddenbrooks. In seinem Roman Buddenbrooks beschreibt Thomas Mann, wie die Köchin während der 1848er-Revolution plötzlich aufmüpfig wird und niemand so recht damit umgehen kann. Die Köchin hat ein Verhältnis mit einem Schlachtergesellen, und dieser Schlachtergeselle hatte ihr politisches Bewusstsein geweckt. Eines Tages, als sie von der Hausherrin zurechtgewiesen wurde, stemmte sie ihre Arme in die Hüfte und verkündete: »Warten Sie mal bloß, Frau Konsulin, dat duert nu nich mehr lange, denn kommt ne annere Ordnung in de Saak; denn sitt ich doar up’m Sofa in’ sieden Kleed, un Sei bedeinen mich denn …« – Man kündigte ihr sofort.
     
    Die Avantgarde kann natürlich auch aus der Oberschicht stammen. So ließ sich zum Beispiel der Rektor der Universität Königsberg im Jahre 1787 entschuldigen und erschien nicht zum Festgottesdienst, den seine Universität anlässlich des Besuchs von König Friedrich Wilhelm II. veranstaltete. Ein unerhörtes Benehmen zur damaligen Zeit! Aber leider war es nun mal so, dass der Rektor Gottesdienste hasste und in seiner Jugend nur der Mutter zuliebe die Kirche besucht hatte. Der Rektor hieß Immanuel Kant. Sein kategorischer Imperativ »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« wird merkwürdigerweise in fast jedem Benimmratgeber von 1960 bis 2010 zur moralischen Begründung von guten Manieren herangezogen. Das ist der billige Versuch, aus Fragen des Benimms eine Frage der Ethik zu machen.
    Damit auch jeder den kategorischen Imperativ versteht, wird seine angebliche Übersetzung, die Goldene Regel, meist ergänzend genannt: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.« Das Ganze beweist lediglich, wie wenig die oben angesprochenen Verfasser tatsächlich von Kant und von Manieren verstehen. Denn Manieren und Ethik stellen in gewisser Weise einen Gegensatz dar: Ethische Regeln sind deswegen ethisch, weil sie universal und für alle Menschen gültig sind wie etwa das Gebot »Du sollst nicht töten«. Manieren sind dagegen von Kultur zu Kultur verschieden und ändern sich dauernd – was heute gut ist, war gestern schlecht und umgekehrt. Sie sind also ihrem Wesen nach gerade nicht universal und für jeden gültig. Es sind Regeln, die von Jahrhundert zu Jahrhundert, für Frauen und Männer und für jede Gesellschaftsschicht anders aussehen. Vor 100 Jahren etwa stand ein Gentleman beim Erscheinen einer Dame auf, im Falle einer Arbeiterin jedoch nicht. Heute gilt ein Mensch, der solche Unterschiede macht, als untragbar. Wenn er Pech hat, muss er sich vor Gericht sogar wegen Diskriminierung verantworten.
     
Was gestern höflich war,
ist heute strafbar!
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    Im 17. Jahrhundert galt es als ehrlos, eine Herausforderung zum Duell abzulehnen, im 21. Jahrhundert würde man sich strafbar machen, wenn man sie annähme. Ein Arbeiter verhielt sich im letzten Jahrhundert anders als ein Manager von heute, für einen Edelmann galten natürlich andere Benimmregeln als für einen Sultan, und ein Popstar kann sich heute mehr erlauben als eine Bankangestellte.
    Die Eltern meiner marokkanischen Freundin setzen selbstverständlich andere Prioritäten als die Eltern einer deutschen Schulkameradin. War die Marokkanerin Farida etwa bei deutschen Freundinnen zu Besuch, wurde ihr selten etwas zu essen
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