Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Autoren: Else Ury
Vom Netzwerk:
der unregelmäßigen englischen Verben unterbrechend. Marietta fuhr beschämt hoch. »Wirklich, Lottchen, ich habe eben nicht aufgepaßt«, gab sie ehrlich zu. »Fang noch mal von vorn an.« Und sie gab sich redlich Mühe, ihre Gedanken fest auf die unregelmäßigen Verben zu richten. Aber das Herunterleiern der Verben war eintönig und langweilig. Lottchen konnte sie wie am Schnürchen. Während Marietta die Blicke auf das blühende Kindergesicht richtete, mußte sie unwillkürlich daran denken, wie elend und bleich, wie mager und abgezehrt das Kind gewesen war, als sie es in den Tropen in ihr Haus genommen hatte. Freilich, daran waren die ungesunden Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter in Brasilien schuld. Lottchens Eltern, die als deutsche Auswanderer dort drüben ihr Glück zu finden glaubten, hatten das Tropenklima und die unhygienischen Wasserverhältnisse das Leben gekostet. Sie waren dem Fieber erlegen. Wieder sah Marietta die fensterlose Lehmhütte in dem Plantagendorf der Orlandos, einer der reichsten Familien drüben, vor sich, zu der ihr kleiner Findling sie einst geführt hatte. Damals war zuerst der Wunsch in dem vierzehnjährigen Mädchen erwacht, soziale Hilfe zu leisten, den Armen, Bedrückten zu helfen. »To know - knew - knewed - nein, knowed - wie heißt denn 'gewußt', Fräulein Marietta?« Lottchen blickte ganz verwundert auf ihre sonst so pflichteifrige Lehrerin, die schon wieder nicht aufmerksam zu sein schien.
    »Known muß es heißen, Lottchen - to know - knew - known«, beeilte sich Marietta den Fehler wieder gutzumachen. Ihre Gedanken kehrten endgültig von den Kaffeeplantagen zu Lottchens unregelmäßigen Verben zurück. Die Stunde nahm nun ohne Störung ihren Fortgang, bis Frau Trudchen unten mit den Kaffeetassen klapperte.
    Die Nachmittagskaffeestunde liebte Frau Annemarie jetzt ganz besonders. Sie war ihr die gemütlichste am Tage, da diese Stunde ihre Lieben um sie vereinte. Sonst fehlte einer meistens bei den Mahlzeiten oder hetzte, um fortzukommen. Seitdem der Geheimrat nur noch vormittags in der Klinik seine Sprechstunde abhielt, war er nachmittags frei, wenn nicht gerade ausnahmsweise noch ärztliche Besuche vorlagen oder sich ein kühner Patient erdreistete, den Nachmittagsfrieden der alten Herrschaften durch unerwünschtes Klingeln zu unterbrechen. Das heißt unerwünscht nur bei Frau Annemarie. Sie wollte, daß ihr Mann sich allmählich zur Ruhe setzen sollte, daß er mit seinen Kräften haushielte. Er hatte lange genug Tag und Nacht bei Wind und Wetter seine Pflicht getan. Aber der alte Herr knurrte, daß man ihn jetzt zum alten Eisen warf. Er war überhaupt in seiner Stimmung nicht mehr so gleichmäßig wir früher. Es war für Frau Annemarie oft gar nicht leicht, heiter und geduldig zu bleiben. Wenn Marietta daheim war, hob sich sein Stimmungsbarometer erstaunlich. »Ich werde auf meine alten Tage noch eifersüchtig werden«, drohte die Großmama oft.
    Heute war Großpapa guter Laune. Sein Nachmittagsschläfchen hatte ihn erfrischt, das Kind, sein »Mariele«, wie er Marietta nannte, schenkte ihm den Kaffee ein und dieser war so heiß, daß man sich den Mund daran verbrannte und ihn beim besten Willen Frau Trudchen nicht zurückschicken konnte, weil er nicht heiß genug sei. »Echt Tavaressches Gewächs - ja, ja, ein Familienprodukt mundet doch ganz anders Das hat halt unser Ursele mit besonderer Liebe drüben geerntet.« Der Geheimrat pflegte diesen Witz seit einundzwanzig Jahren zu machen, seitdem seine Jüngste Milton Tavares, dem Kaffeekonig von Santos, übers Meer gefolgt war. Die großen Sendungen trafen regelmäßig ein. Man trank in Lichterfelde gar keinen anderen Kaffee. »Nun erzähl halt, Kind, wie' sin deiner neuen Zwangsanstalt gewesen ist«, begann der alte Herr, sich gemütlich in die Sofaecke zurücklehnend, nachdem die Enkelin ihm die übliche Nachmittagszigarre, Aschenbecher und Streichhölzer gereicht hatte. Er ließ sich gar zu gern von Marietta verwöhnen.
    »Ja, da ist noch nicht viel zu berichten, Großpapa. Die Schulleiterin, Fräulein Dr. Engelhart ...«
    »Fräulein Dr. Engelhart, wahrscheinlich mehr hart als Engel. Ein arg verschrobenes, bebrilltes Frauenzimmer, gelt?«
    »Das ist Fräulein Doktor Engelhart ganz und gar nicht, Großpapa. Sehr gescheit und lieb ist sie. Aber freilich große Anforderungen scheint sie an uns zu stellen.« Marietta sah ein wenig sorgenvoll drein.
    »Bist wohl noch nit blaßschnäbelig genug - ich hätt' meine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher