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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Autoren: Else Ury
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Damastserviette gegen das Licht. Eine Jagd war als kunstvolles Muster in das seidigglänzende Gewebe hineingewebt. Diese Jagd mit Hirschen, Hunden und Jägern hatte schon ihre Begeisterung erregt, als sie noch Doktor Brauns kleines Nesthäkchen gewesen war und mit ehrfürchtigen Augen vor dem großen Wäscheschrank der eigenen Großmama gestanden hatte. »Dieses Jagdgedeck sollst du mal bekommen, Annemarie, wenn du groß bist und dich verheiratest.« Als wäre es heute, so genau erinnerte sich Frau Annemarie jener Szene aus ihrer Kinderzeit. Merkwürdig - sie lebte jetzt viel mehr in der Vergangenheit als früher. Längst vergessene Bilder, die jahrzehntelang entschwunden waren, tauchten manchmal wieder auf. Das ging wohl jedem so mit zunehmendem Alter. Die Gegenwart erforderte nicht mehr volles Sicheinsetzen, die Zukunft hatte nicht mehr viel zu bringen. Was blieb da noch?
    Beinahe zärtlich streichelte ihre Hand über den alten Damast. Nein, sie sollte noch nicht ausrangiert werden, ihre Jagdserviette. War man nicht selbst auch rissig und brüchig geworden? Emsig begann sie den Faden durch die schadhaften Stellen zu ziehen. Droben im Stübchen gerade über dem Biedermeierzimmer der Großmama saßen sich indessen Marietta und Lottchen gegenüber. Hier war jetzt Schulstunde. Lottchen, die seit einem halben Jahr von der Volksschule auf das Mädchenlyzeum umgeschult war, zeigte trotz heller Auffassungsgabe in den fremden Sprachen manche Lücke. Marietta hatte sich vorgenommen, diese auszufüllen. Ihr, die schon als Kind fünf verschiedene Sprachen gelernt hatte, machte das weiter keine Mühe. Sie betrachtete Lottchen immer noch als ihren kleinen Findling, für den sie verantwortlich war. Hatte sie nicht damals in Brasilien der sterbenden Mutter der Kleinen versprochen, sich ihres verwaisten Kindes anzunehmen, es nach Deutschland zu bringen, zu den in Westfalen lebenden Verwandten? Die Nachforschungen nach ihnen waren erfolglos geblieben. Lottchen hatte in Lichterfelde ebenfalls eine Heimat gefunden. Frau Trudchen und ihr Mann, das Kunzesche Ehepaar, das schon über zwanzig Jahre in Haus und Klinik des Großvaters tätig war, hatten die kleine Waise an Kindes Statt angenommen. Die Großmama mit ihrem warmen Herzen betrachtete auch das fremde Kind wie eins ihrer zahlreichen Enkelkinder. Für die materiellen Anschaffungen der Kleinen, Kleidung, Schulgeld usw. aber sorgte Mariettas Vater, der reiche Plantagenbesitzer in Brasilien. Oder vielmehr seine Tochter tat es. Der Scheck, den Marietta allmonatlich vom Vater zur Verfügung gestellt bekam, bedeutete für deutsche Begriffe eine recht beträchtliche Summe. Die persönlichen Bedürfnisse des einst so eleganten Tropenprinzeßchen waren in Deutschland in dem bürgerlich bescheidenen Heim der Großeltern ebenfalls bescheidener geworden. Obwohl Marietta nur gewöhnt war, das Beste zu kaufen und sich vornehm zu kleiden, entsprach Schlichtheit viel mehr ihrem Wesen. Den Hauptteil des väterlichen Schecks verwandte sie dazu, um anderen eine Freude zu machen. Ihre kleinen Schützlinge im Kinderhort und in der Krippe waren ihre besten Abnehmer. Auch hatte sie es angeregt, daß Lottchen in ein Lyzeum umgeschult wurde. Der Großvater stimmte nicht dafür.
    »Unsere Volksschulen sind so vortrefflich, daß sie eine solide, ausreichende Grundlage für den späteren Beruf geben. Wozu soll das Kind über seinen Stand hinaus? Es braucht nicht Französisch und Englisch zu lernen.« Aber Marietta mit ihren sozialen Grundsätzen hatte ihm auseinandergesetzt, daß jedem Menschen mit guter Veranlagung die Gelegenheit geboten werden müsse, soviel wie möglich zu lernen. Der Großpapa dachte doch sonst so human - alt und jung verstanden sich darin nicht. Die Großmama mußte wieder mal vermitteln. Sie schlug sich auf Mariettas Seite. Warum sollte man dem Kind, wenn die dazu erforderlichen Geldmittel da waren, nicht die Möglichkeit der besseren Bildung geben. So war Lotte Lyzeumsschülerin geworden und gehörte dort zu den besten. Freilich, Marietta setzte auch ihre Ehre darein, das Kind in jeder Weise zu fördern. Heute war die junge Lehrerin nicht so bei der Sache wie sonst. Und diese Gedankenabwesenheit übertrug sich auf die Schülerin.
    »To say - said - said, to forget - forgot - forgetten« stimmt das, Fräulein Marietta? Ach, Sie haben ja gar nicht aufgepaßt. Hier steht's, 'ich habe vergessen' heißt 'I have forgotten'«, beschwerte sich die Schülerin über die Lehrerin, das Pauken
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