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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Autoren: Else Ury
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wo meine Pflicht liegt, bei euch oder drüben.« So, nun war's heraus. Frau Annemarie lachte nicht mehr. Kein selbstsüchtiger Gedanke kam ihr. Sie sah nur, daß Marietta in einem seelischen Zwiespalt war, daß ihr Liebling darunter litt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder sprach. »Wo deine Pflicht liegt, Kind? Uns, dem Großpapa und mir gegenüber hast du keine Pflicht, höchstens Herzenspflichten. Wir beide sind alt, wir werden nicht ewig leben. Du darfst dein Leben nicht mit Rücksicht auf uns gestalten. Aber auch drüben bei den brasilianischen Arbeitern liegt deine Pflicht nicht. Du bist nicht der Mensch, um den Kampf gegen eingewurzelte soziale Mißverhältnisse aufzunehmen und durchzuführen. Du bist körperlich und seelisch viel zu zart. Ganz abgesehen davon, daß du dich niemals bei der lähmenden Tropenhitze wohl gefühlt hast und sicher nicht imstande wärst, dabei ernsthaft zu arbeiten. Hast du mir nicht selbst erzählt, wie ihr in den heißen Monaten bei verdunkelten, gegen die Sonne festversperrten Jalousien, matt und zu jeder Tätigkeit unlustig, vegegiert habt? Wie ihr euch um den ein wenig Kühlung spendenden Rieseneisschrank geschart habt und nur nachts ins Freie konntet? Glaubst du, dabei etwas schaffen zu können? Nein, Seelchen, du hast nur eine Pflicht, die, welche jeder Mensch hat, gegen sich selbst. Du bist für die Tropen ungeeignet. Auch deine Eltern sind bereits zu dieser Erkenntnis gekommen. Der Hauptzug deines Wesens ist deine Liebe und Fürsorge für die Kinder. Denen gehört deine Arbeit. Deine Pflicht ist es, für den Kreis zu wirken, für den du berufen bist, den du auszufüllen vermagst. Ob das nun in Amerika oder in Europa geschieht - wo du etwas leistest, wo du Gutes schaffst, da liegt deine Pflicht.«
    Still war's nachdem die Großmama gesprochen hatte. Der warme, eindringliche Ton ihrer Worte schwang noch lange in Mariettas Ohr. Sie vermochte nicht gleich zu antworten. Immer dichter wurden die dunklen Schleier um Strauchwerk, Bäume und Häuser. Hier und da blitzten am Bahnkörper gelblich blinzelnde Lichter auf. Vom Grunewald her kam es feucht herangekrochen. Schon kam man wieder in bewohnte Gegend. Da blieb Marietta stehen und schmiegte ihr Gesicht fest an den lieben, weißhaarigen Kopf der Großmama. »Heute hast du mir das Beste für mein Leben gegeben, Großmuttchen. Deine Worte sollen mir ein Wegweiser sein.«

Kinderhort
     
    Kleine Näschen drückten sich gegen die regenbespritzten Fensterscheiben. Sieben an der Zahl. Die dazugehörenden Kleinen, Mädel und Jungen zwischen drei und sechs Jahren, standen auf Kinderstühlchen und Bänken und spähten hinaus. Da gab's eigentlich wenig zu sehen in dem grauen, verregneten Hofgarten; ein entlaubter Kastanienbaum, der seine triefenden Zweige schüttelte, ein nasser Fliederbusch, drüben am Gesims des roten Backsteingebäudes ein paar frierende Spatzen, zu einem nassen Federknäuel zusammengerollt.
    »Tante Jetta kommt noch immer nicht«, stellte ein kleines Mädchen mit einem gelben, in semmelblonde Zöpfchen eingeflochtenen Zigarrenbändchen seufzend fest. »Tante Jetta soll aber nu endlich kommen und mit uns spielen«, verlangte ein kleiner Hosenmatz energisch.
    »Nee, lieber wieder von'n Weihnachtsmann erzählen, das is viel scheener«, rief Paulchen mit dem ständigen Schmutznäschen.
    »Und zu Weihnachten wünsch' ich ma von'n Weihnachtsmann 'ne Puppe, so 'ne jroße ...«, rief das niedliche Kätchen. »Nee, lieber für Vatern 'n Paar neue Stiebel. Er hat jesagt, er kiekt schon mit de Hühneraugen aus seine alten raus.« Das war der etwas ältere, schon verständigere Bruder.
    »Weihnachten is nich - wir haben kein Jeld für so was. Weihnachten is man bloß was für die reichen Leute, hat meine Mutter jesagt«, meinte Ingeborg mit dem spitzen, altklugen Gesicht. Sie war die Älteste, schon neun Jahre alt, und schaute nicht mit hinaus. Sie saß auf einer Bank und strickte an einem Strumpf wie eine Alte.
    »Haach - is ja gar nicht wahr. Tante Jetta hat uns erzählt, der Weihnachtsmann bringt allen Kindern was, wenn sie artig sind. Nicht bloß den reichen. Und meine Muttel sagt das auch«, rief Lenchen mit dem gelben Zigarrenzopfband. »Die wissen das ja gar nicht ...«
    »Was - die Muttel und Tante Jetta wissen alles. Die Tante Jetta ist so klug und so gut - ach, wenn sie doch bloß erst käme!« rief ihre eifrigste kleine Verehrerin. »Wenn sie doch bloß erst käme!« echote der Kinderchor sehnsüchtig hinterdrein
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