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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Autoren: Else Ury
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Stundenplan. Da gab es Berufskunde und soziale Literatur, Gesundheitslehre und Gesundheitsfürsorge, Pädagogik und Jugendfürsorge. Da gab es Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, Worte, bei denen einem allein schon himmelangst werden konnte. Unter denen man sich vorläufig nur einen steilen Berg, den man niemals erklimmen würde, vorzustellen vermochte. Die schwarzen Augen unter dem goldbraunen Kraushaar in der vorletzten Reihe schienen diese Beklommenheit besonders sprechend zum Ausdruck zu bringen. Fräulein Engelhart, die gerade »Buchführung und Verwaltungskunde« diktierte, unterbrach sich lächelnd: »Fräulein Tavares, Sie brauchen nicht solche bange Augen zu machen. Das hört sich für den Neuling schlimmer an, als es ist. Das Labyrinth der Ihnen fremden Sozialgebiete wird Ihnen allmählich schon vertraut werden. Nur guten Willen, ernstes Pflichtbewußtsein müssen Sie als Wanderstab mitbringen. Lassen Sie mich zum Schluß Ihnen als Weggeleit ein Wort Marie von Ebner-Eschenbachs mitgeben: 'Wenn uns auf Erden etwas mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt wird, so ist es unsere Menschenliebe.' 'Die Leiterin neigte leicht grüßend den Kopf und verließ den Klassenraum.
    »Eine wundervolle Frau!« Man wußte nicht, wer es gesagt, wer das ausgesprochen hatte, was eine jede der Schülerinnen empfand.
    Die beiden aus der vorletzten Reihe schritten Arm in Arm durch das Gittertor hinaus in den herbstlichen Vorgarten.
    »Mit einer solchen Frau wie Fräulein Dr. Engelhart gemeinsam zu wirken, ist ein großes Glück«, unterbrach die größere der Kusinen das minutenlange Schweigen. »Ich freue mich auf die Arbeit. Je schwerer sie ist, um so größer ist der Erfolg.«
    Marietta blickte bewundernd zu ihrer Gefährtin auf. Wie sicher Gerda des Erfolges war, während sie selbst sich bange fragte, ob es nicht eine Anmaßung von ihr sei, sich auf solch ein schwieriges Gebiet zu begeben.
    »Du bist so still, Jetta. Hat dich der erste Tag in der sozialen Frauenschule enttäuscht?« Nein Gerda!« Das goldbraune Haar flatterte im Wind, so lebhaft wurde der Kopf geschüttelt. »Nur von mir selbst bin ich enttäuscht. Ich fürchte, den großen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.« Marietta sprach inzwischen ein fehlerloses Deutsch. »Ich wüßte nicht, wer für diesen Beruf geeigneter wäre als du, Jetta«, protestierte die andere.
    »Ich weiß nicht, ob ich den schweren Lehrkursen werde folgen können. Ja, wenn ich so klug wäre wie du.«
    »Du leidest wieder mal an falscher Bescheidenheit, Jetta. Das Theoretische wirst du so gut wie jede andere bewältigen. Und für die Praxis bedarf es vor allem Menschenliebe und Selbstaufopferung, die du in vollstem Maße besitzt. Hat meine Mutter es nicht oft genug während deiner zweijährigen Hilfstätigkeit in ihren Kleinkinderkrippen und Jugendhorten geäußert, daß keine andere sich so ganz einsetzt wie du? Na also! Dir fehlt nur Selbstvertrauen. Du darfst nicht auf den mühevollen Weg schauen, sondern auf das Ziel, das es zu erreichen gilt. Denke nur, Jetta, wenn du die Arbeiterfürsorge bei euch drüben in Brasilien nach europäischen Mustern wirst ausbauen können, was für ein reiches Feld da vor dir liegt.« Gerda Ebert sprach klug und überzeugend.
    Marietta war stehengeblieben. Sie war seltsam erregt. Das Blut kam und ging in ihrem zarten Gesicht. »Nun?« fragte Gerda erstaunt.
    »Es ist nicht allein Mangel an Selbstvertrauen, Gerda. Es ist vor allem der Entschluß über unsere Zukunft, den Fräulein Engelhart von uns verlangt und der mich beschwert. Du glaubst nicht, wie haltlos und unsicher es mich macht, daß ich jetzt vor eine Entscheidung gestellt bin.«
    »Entscheidung?« wunderte sich Gerda. »Wir haben uns doch beide schon entschieden. Schon als Backfisch hast du davon geschwärmt, euren Plantagenarbeitern in Brasilien bessere Lebensmöglichkeiten zu schaffen, eine soziale Helferin der bedrückten Arbeiterklasse in Sao Paulo zu werden.«
    »Ja, davon habe ich früher stets geträumt, es mir als Zukunftsideal ausgemalt. Aber jetzt, wo ich den Weg dazu einschlagen soll, da sehe ich nur, daß er mich über den Ozean zurückführt, fort von allem, was mir in den fünf Jahren meines Aufenthaltes in Europa teuer und lieb geworden ist. Es erscheint mir geradezu als Unmöglichkeit, wieder in die Tropen zurückzugehen.«
    »Kindchen, du weißt ja nicht, was du willst«, lachte sie die Kusine aus. »Brasilien ist doch deine Heimat, du hast deine Eltern, deine Geschwister
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